Nicole de Temple / Sylvia Kath / Daniela Riedel

DasKunsthaus Tacheles in Berlin– zwischen Subkultur und Luxus?

Auch wenn das Tacheles längst nicht mehr dem anfänglichen Bild von Subkultur und Hausbesetzung entspricht, so steht es mit seinem morbiden Charme und der großen Freifläche in zentraler Lage für die Unfertigkeit und die freie Aneignung und Gestaltung von Räumen in der Stadt. Derzeit entsteht auf dieser Freifläche ein neues Wohn- und Geschäftsviertel geprägt von einer kommerziell-touristischen Nutzung wie in den benachbarten Hackeschen Höfen: Das ‚Quartier am Tacheles’, geplant von dem Büro Duany und Plater-Zyberk im Auftrag des Investors Fundus. Die Planung versucht nicht mehr, das Kunsthaus und die zugehörige Freifläche als ‚Herz’ eines neuen Quartiers für sich in Anspruch zu nehmen, sondern gibt beides gänzlich preis. Das Projekt zieht mit seiner Adaption des Flatiron-Buildings und Beresford-Gebäudes aus New York, der Tacheles-Residence für gehobenes Wohnen, Lofts und den sogenannten Tacheles-Höfen unter dem Deckmantel des New Urbanism – einer Reformbewegung des US-amerikanischen Städtebaus - viel Aufmerksamkeit auf sich. Es verwundert zunächst, dass gerade an diesem symbolischen Ort der Nachwendezeit in Ostberlin eine so exklusive Nutzung entsteht.

1.  Einführung

In diesem Artikel geht es um den Planungsprozess am Tacheles. Dabei werden die Rolle und Handlungsweisen der beteiligten Akteure sowie ihre Selbstwahrnehmung und ihre Handlungsspielräume, die verschiedenen städtebaulichen Konzepte und die politischen sowie ökonomischen Rahmenbedingungen im Wandel dieses über zehnjährigen Prozesses fokussiert.[1] Zur besseren Einordnung des Prozesses in die derzeitige Diskussion um Steuerung von Stadtentwicklung sollen vorab einige Anmerkungen dazu gemacht werden.

Stadtentwicklung vollzieht sich nicht einseitig nach den Vorgaben der Gemeinde, sondern ist natürlich auch von den Investitions- und Nutzungsinteressen von Grundstückseigentümern, Investoren oder anderen Beteiligten bestimmt. Vor dem Hintergrund immer knapper werdender öffentlicher Haushalte stellt sich die Frage, ob und wie sich im Zuge dessen die Rollen und Verhaltensweisen der handelnden Akteure verändern, wessen Interessen sich durchsetzen und in welche Richtung Entwicklungen gelenkt werden.

Oftmals steht in der erwähnten Diskussionen das Maß der kommunalen Steuerung und Verantwortung im Vordergrund. Eine zu beobachtende Tendenz ist die Entwicklung neuer Handlungsweisen und Methoden kommunaler Steuerung. ‚Stadtentwicklung am Markt’, ‚public-private Partnership’ oder die ‚Stadt als Unternehmen’ sind mittlerweile Begriffe, die für steuerungspolitische Neuansätze stehen. Es geht vorwiegend um Stadtentwicklung durch Partnerschaften, besonders um eine Kooperation mit der Wirtschaft. Die Kommunen sehen sich zunehmend vor die Herausforderung gestellt, in der Erfüllung ihrer gesetzlichen Auflagen und gemeinwohlorientierten Ansprüche wirtschaftlich zu denken und zu agieren. Zu beobachten ist oftmals eine abnehmende Bedeutung der staatlichen Akteure und demgegenüber eine zunehmende Bedeutung privater Akteure.

Der Balanceakt der Kommunen, die versuchen, ihre Handlungsspielräume zu erkennen und zu nutzen, um sich nicht privatwirtschaftlichen Interessen zu unterwerfen, geht dabei oftmals zuungunsten der Kommune aus. Die Kommune verhält sich nur noch passiv und reagiert auf private Initiativen, indem sie deren konzeptionelle Vorschläge für überbaubare Grundstücksflächen oder Höhenvorgaben für die Gebäude ‚nachbessert‘.

Am Beispiel des Tacheles lässt sich diese zunehmend private Stadtentwicklung verdeutlichen. Dies geschieht jedoch nicht im Sinne einer denkbaren und sinnvollen Kooperation zwischen Investor und Verwaltung, sondern in der Aufgabe von kommunaler Verantwortung und planerischen Grundsätzen.

Bei einer Betrachtung der Entwicklung des Areals kristallisiert sich folgendes Ergebnis heraus: Die unzureichende Wahrnehmung von Handlungsspielräumen sowie unklare Entwicklungsziele und Rollenvorstellungen seitens der Verwaltung und des Kunsthauses Tacheles im Zusammenspiel mit dem gezielten Vorgehen und gut konzipierten Vorstellungen des Investors Fundus führen zu einer ‚Aufgabe‘ öffentlicher Verantwortung, die sich im ‚Aussitzen‘ von eigentlich notwendigen Entscheidungen ausdrückt. Weiterhin haben externe strukturelle Faktoren wie die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage und die Finanznot Berlins sowie der politische Wechsel (des Kultursenators und des Bausenators Nagel) nach der Abgeordnetenhauswahl 1995 direkten Einfluss auf das Planungsgeschehen. Sie führen zu entscheidenden Richtungsänderungen. Andere Regierungswechsel hatten keine Trendwende im Verhalten der städtischen Akteure zur Folge, sondern führten das vorherrschende Verhaltensmuster fort. Eine eher untergeordnete Rolle spielte die städtebauliche Qualität der Entwürfe.

Bevor diese Faktoren detailliert am Planungsprozess dargestellt werden, erfolgt vorab zum besseren Verständnis eine kurze Einführung zur Lage und Bedeutung des Tacheles-Geländes.

2.  Stadträumliche Lage des Tacheles und kurze Geschiche des Areals

Das Tacheles-Areal befindet sich im Zentrum des Berliner Verwaltungsbezirks Mitte am Rande der Spandauer Vorstadt und stellt mit 22.000m² eine ungewöhnlich große letzte innerstädtische Brachfläche dar. Es ist geprägt durch die unmittelbare Nähe des Regierungsviertels und des Ostberliner Zentrums mit den repräsentativen Flaniermeilen ‚Unter den Linden‘ und Friedrichstraße, dem Alexanderplatz sowie der Museumsinsel und anderen kulturellen Einrichtungen.

 

Abb. 1: Stadträumliche Einordnung des Tacheles, Quelle: Eigene Darstellung

 

Kleinräumlich betrachtet bildet der Standort den nordwestlichen Eingang zur Spandauer Vorstadt, die in den letzten Jahren als Kneipen- und Galerieviertel zu besonderem Bekanntheitsgrad aufgestiegen ist. Die Umgebung des Tacheles-Areals ist geprägt von gründerzeitlichen ‑ und teilweise noch älteren ‑ Wohnbauten, die in der Oranienburger und der Friedrichstraße in den Erdgeschossen Einzelhandelsgeschäfte und Gastronomiebetriebe beherbergen. Öffentliche Gebäude mit kultureller und religiöser Nutzung ergänzen das Stadtbild. Dabei sind vor allem das Tacheles selber, das Postfuhramt, das Centrum Judaicum und der Friedrichstadtpalast zu nennen.

Das Tacheles-Areal befindet sich somit zwischen der nutzungsstrukturell stark durchmischten Spandauer Vorstadt und den zentralen Citynutzungen der Friedrichstraße. Damit wird das Besondere dieses Standortes erkennbar: Das Areal fungiert als Scharnier zwischen Oranienburger und Friedrichstraße als zwei bedeutende Flaniermeilen der City-Ost. Viele Baustellenschilder zeugen von einem hohen Verwertungsdruck in der Umgebung. Bauvorhaben sind meistens Wohnungen für höhere Einkommensschichten sowie Büro- und Ladenflächen.

Die bauliche Nutzung des Areals geht auf das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zurück. 1907-1908 wurde im Rahmen einer Aufwertungsstrategie der barocken Vorstadt ein Passage-Kaufhaus gebaut. Nach einer schnellen Pleite des Kaufhauses wurde der Gebäudekomplex in den nächsten Jahrzehnten vielfältig genutzt.[2] Die jahrelange intensive Nutzung der Räume ‑ ohne ausreichende Sanierung ‑ verursachte Schäden am Gebäude, die als Spätfolgen für die Passage größere Auswirkungen hatten als die ursprünglichen Kriegsschäden selbst. Verschiedene Ende der 1970er angefertigte Gutachten befürworteten den Abriss.

Der Gebäudekomplex an der Oranienburger Straße, das heutige Kunsthaus, mit dem Kinosaal wurde jedoch in seiner Substanz als relativ gut erhalten bezeichnet. Um den Betrieb des Kinos ‚Camera‘ aufrechtzuerhalten, sollte dieser Bauteil zuletzt abgerissen werden. Im Jahr 1980 wurde aufgrund des schlechten Bauzustandes und der Planung einer neuen Verbindungsstraße, die eine Verkürzung von der Oranienburger zur Friedrichstraße herstellen sollte, mit dem Abriss der ersten Gebäudeteile in der Friedrichstraße begonnen. Eine Verzögerung der Abriss- und Entsorgungsarbeiten führte zu einer Erhaltung des letzten Flügels des Gebäudes in der Oranienburger Straße (dem heutigen Tacheles) bis nach der Wende, der planmäßig im April 1990 gesprengt und abgeräumt werden sollte.[3]

Die leerstehenden Häuser bzw. die günstigen Mieten der Häuser niedrigsten Standards in zentraler Lage zogen nach der Wende Künstler und Alternative an. Der übriggebliebene kulturhistorisch bedeutsame Flügel des Passage-Kaufhauses wurde am 13.02.1990 durch die Künstlerinitiative ‚Tacheles’ besetzt und die Sprengung damit verhindert. Neue Gutachten stellten die noch verbliebene Ruine unter Denkmalschutz.

In der Folgezeit entwickelte sich das Kunsthaus Tacheles zu einem wichtigen Treff- und Kommunikationspunkt in Berlin-Mitte. Künstler aus aller Welt beteiligten sich am Aufbau des Kunsthauses. Dabei basierten die Aktivitäten des Tacheles anfangs auf der Basis von Selbstorganisation und Eigeninitiative. Später wurden Provisorien mit dem erwirtschafteten Geld und öffentlicher Förderung nach und nach ersetzt.

Die Ruine des Tacheles als ‚Gesamtkunstwerk’ mit seinem Skulpturengarten auf der hofseitigen Freifläche, in dem große Schrottskulpturen für Aufmerksamkeit sorgten, seinen buntbemalten Wänden und seinen für die Öffentlichkeit offenen Ateliers wurde bald zum Aushängeschild des neuen, alternativen Berlins. Es bildete den Hintergrund für mehrere Filmproduktionen und wurde zum beliebten Postkarten- und Fotomotiv.

Mit dem Übergang von spontanen zu regelmäßigen Kunstaktionen, der Abhängigkeit von öffentlichen Fördergeldern und den Einnahmen aus Händen der Touristen wandelte es sich in den Augen der Kritiker vom kreativen Happening zur institutionalisierten Aufführung einer Off-Kultur. Dieser Ruf wurde von Werbemaßnahmen und Touristenkampagnen, auch aus der Hand des Senats, unterstützt. Als Ende 1998 die Räumung des Tacheles drohte, war der Tenor der Zeitungen fast einschlägig, das Tacheles würde die Subkultur missbrauchen und dem ‚Ruinenkitsch’ verfallen. Dennoch hielt die Anziehungskraft des Tacheles besonders auf Touristen weiter an.

 

Abb. 2a/2b:

Teilsanierte Hinteransicht des Kunsthauses und Detail, Quelle: Eigene Aufnahmen

 

3.  Ideen zur Entwicklung des Standortes

Im Gegensatz zu vielen anderen Gebieten, deren Wiederaufbau und Instandsetzung im Ostteil Berlins von Seiten der Senatsverwaltung gefördert wurde, stand in der Spandauer Vorstadt nicht die Initiierung, sondern die Steuerung von Investitionen im Vordergrund.

Auch das Tacheles-Areal weckte das Interesse vieler Investoren. Während des zwölf Jahre andauernden Planungsprozesses gab es diverse Konzepte und Ideen seitens der Investoren, Initialprojekte einzelner Architekten, einen kooperativen Planungsansatz und vom Tacheles in Auftrag gegebene Gutachten zur Entwicklung dieses einmaligen Standortes. Aus dieser Vielzahl an Ideen lassen sich drei ernst zu nehmende, weil wirklich diskutierte und finanziell glaubwürdige, städtebauliche Entwürfe herausfiltern:

 

·     1990-1992 ‚Linse‘ von Prof. Kleihues im Auftrag von Skanska

·     1993-1996 ‚Ei am Tacheles’ von Michael Lowe/ ARUP Urban Design im Rahmen des kooperativen Planungsansatzes mit dem Bezirksamt Mitte, Tacheles e.V., Fundus unter der Moderation von Toni Sachs-Pfeiffer

·     2000 Masterplan ‚Quartier am Tacheles’ von Planungsbüro Duany und Plater-Zyberk im Auftrag von Fundus

 

Im Folgenden wird der Planungsprozess anhand dieser drei Entwürfe dargestellt und in die jeweiligen ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen der Gesamtstadt eingebettet.

3.1  1990-1992 ‚Linse’

Der Zeitpunkt des Entwurfs fällt in die wirtschaftliche Boomphase unmittelbar nach der Wende. Die Politik dieser Zeit ist auf Wachstum ausgerichtet. Städtebauliche Megavorhaben wie die südliche Friedrichstraße, der Potsdamer Platz oder der Ausbau Berlins zum Regierungshauptsitz sind Kennzeichen dieser Jahre. Wissenschaftler und Politiker prognostizieren der Stadt ein ungeheures Bevölkerungswachstum sowie den Ausbau Berlins zur global city und zur Dienstleistungsmetropole. Mächtige Akteure dieser Zeit wie die Treuhand oder der KOAI[4] bestimmen maßgeblich über das spätere Stadtbild.

Das Tacheles-Gelände liegt aufgrund seiner derzeit eher dezentralen Lage nördlich der Spree nicht vorrangig im Blickwinkel der Investoren. Das Erscheinungsbild ist durch eine verfallene Altbausubstanz, einen geringen Modernisierung- und Instandsetzungsgrad sowie eine schlechte Zugänglichkeit und Erschließung gekennzeichnet. Bedingt durch das Wachstum dieser Zeit und der stadträumlichen Nähe zu den Toplagen gibt es dennoch Interesse seitens des schwedischen Investors Skanska.

Die euphorische wirtschaftliche Stimmung lässt die Bodenpreise steigen. Damit ist der Handlungsspielraum von Skanska eingeschränkt. Erforderlich ist eine schnelle und rentable Verwertung des Grundstücks. Die Gewinnerwartungen auf dem Immobilienmarkt sind hoch und lassen Raum für Spekulationen. Die ökonomischen Anforderungen dieser Zeit spiegeln sich in massiven städtebaulichen Strukturen wider.

 

Abb. 3: Visualisierung der städtebaulichen Merkmale ‚Linse‘, Quelle: Eigene Darstellung

 

Das städtebauliche Kernstück des Entwurfes ist die linsenförmige massive Passagenhalle, die den alten Passagegedanken wieder aufleben lässt. Im Entwurf dient sie gleichzeitig als inneres Erschließungskreuz. Mit einer Länge von ca. 200 m, einer Breite von 32 m im Stich und einer Höhe von 20 m nimmt sie die Hälfte der Blocklänge ein. Eingangsschwerpunkte in den Block sind das noch erhaltene ehemalige Passagentor an der Oranienburger Straße und der Passagenhalleneingang an der Friedrichstraße. Die Halle verbindet als ‚Scharnier’ die Friedrichstraße und die Oranienburger Straße.

Der westliche Teil der Linse soll überwiegend für den Einzelhandel und der östliche Teil gewerblich genutzt werden. Die Nutzungen sind renditeorientiert gewählt und werden den Bedürfnissen der Bevölkerung vor Ort nicht gerecht. Hauptaugenmerk wird auf wirtschaftliche Verwertbarkeit gelegt.

Mit der ‚Linse‘ entsteht eine städtebauliche Megastruktur, die sich weder von den Nutzungen noch von den Parzellierungen her in die Umgebung einfügt. Der Entwurf ist nach innen orientiert und somit sehr auf sich selbst bezogen. So verwundert es weiterhin nicht, dass der quantitativ geringen Wohnnutzung auch stadträumlich ein geringer Stellenwert zuteil wird, da sie für die Hauptnutzer, die die Passage durch die Eingänge an der Oranienburger und Friedrichstraße betreten, praktisch nicht wahrnehmbar ist und sich auf einen Park konzentriert. Die neu entstandene Freifläche im östlichen Blockinnenbereich wirkt versteckt und ist vom äußeren Straßenraum nicht sichtbar.

Durch die dominante Passagenhalle mit ihrer eindrucksvollen Größe wird das Tacheles in den Hintergrund gedrängt. Die bestehende Freifläche hinter dem Tacheles wird durch die Planungen zugunsten der maximalen Verwertung des Grundstückes stark beschnitten.

Die ‚Linse’ scheitert maßgeblich am Widerstand der Künstler des Tacheles. Dem Kunsthaus gelingt es, entgegen der mächtigen Bündnisse auf Senatsebene und der starken Wirtschaftslobby (KOAI) seine Interessen durchzusetzen. Unterstützt wird das Kunsthaus von einer breiten Öffentlichkeit, einzelnen Schlüsselpersonen aus dem Bezirksamt Mitte und dem Stadtentwicklungssenator Hassemer. Der städtebauliche Entwurf mit der Nichtbeachtung des Kunsthauses kann unter diesen Bedingungen nicht überzeugen und befördert sich damit selbst ins Abseits. Schließlich wird die politische Rückendeckung für den Erhalt des Kunsthauses mit dem Pro-Tacheles-Beschluss[5] im Abgeordnetenhaus untermauert.

3.2 1993-1996 ‚Ei am Tacheles’

Das ‚Ei am Tacheles‘ ist das Ergebnis eines kooperativen Planungsansatzes unter Beteiligung aller relevanten Akteure, nämlich die nach dem Rückzug von Skanska als Interesse bekundender Investor auf den Plan tretenden Fondsgesellschaft Fundus, des Bezirksamtes, einem Teil des Kunsthauses und der Moderation von Toni Sachs-Pfeiffer.

Diese Planung lässt sich in die wirtschaftliche Ernüchterungsphase, die auf den großen Boom folgt, einordnen. Es zeichnet sich ab, dass die Prognosen nicht eintreten werden. In der Folge macht sich Realismus breit. Diese veränderten Rahmenbedingungen wirken sich auf den Entwurf aus und lassen sich vor allem an der Kalkulation des Investors ablesen. Eine kurzfristige Rentabilität spielt bei dem Konzept keine Rolle. Anders als beim Vorgänger beteiligt man sich nicht an spekulativen Immobiliengeschäften. Trotz gesunkener Bodenpreise ist die Handlungsmacht des Investors diesmal durch die enge Kooperation aller relevanten Akteure eingeschränkt.

 

Abb. 4: Visualisierung der städtebaulichen Merkmale ‚Ei am Tacheles‘, Quelle: Eigene Darstellung

 

Der Entwurf ist geprägt durch eine vergleichsweise geringe Bebauungsdichte und einen relativ großen Freiraumanteil. Die große Freifläche hinter dem Kunsthaus bleibt weitestgehend erhalten und wird durch einen sogenannten Mediaturm ergänzt. Die Form des autofreien, zentralen Platzes verleiht dem Entwurf auch seinen Namen. Damit rückt die Integration des Kunsthauses hier in den Mittelpunkt.

Anhand der Abbildung wird klar, dass keine massiven Kubaturen entworfen werden, sondern einzelne Hofstrukturen. Die kleinteilige Parzellierung soll eine Nutzungsmischung sichern und die Einzeleigentümer frühzeitig den Ort mitprägen lassen. Auch die Aufteilung der einzelnen Gebäude sollen die Nutzer mitbestimmen. Die Bebauung orientiert sich stark an den bestehenden Strukturen (Blockrandbebauung und Innenhöfe). Die Erschließung erfolgt anhand der alten Passagenverbindung, die östlich weitergeführt wird und auf eine Nord-Süd-Verbindung trifft. Diese Verbindung strukturiert den Raum in zwei Bereiche: den öffentlichen Bereich mit Kultur, Gewerbe sowie Einzelhandel und den Wohnbereich. Dadurch wird das Wohnquartier klar vom öffentlichen Geschehen am Platz getrennt.

Der Entwurf stellt eine Konsenslösung des genannten Bündnisses dar, kann sich aber dennoch aus verschiedenen Gründen nicht durchsetzen. Einerseits führt ein Generationswechsel im Kunsthaus selbst zu inneren Streitigkeiten und Spaltungen, die maßgeblichen Einfluss auf das Scheitern ausüben. Andererseits führen persönliche Konflikte im Akteurskern, die ungünstige Akteurskonstellationen mit sich bringen, zu einem ‚verspäteten Dissens’.[6]

Mit dem ‚Ei am Tacheles’ wird deutlich, wie schnell die Macht einzelner Akteure zum dominierenden Faktor mutieren kann und eine Partnerschaft handlungsunfähig macht. Das pseudostarke Bündnis, welches durch den personalen Wechsel geschwächt ist, kann sich einer einzelnen radikalen ‚Splittergruppe‘ des Kunsthauses gegenüber nicht behaupten, die den Konsens aufkündigt. Auch das Bezirksamt verpasst die Option, vermittelnd tätig zu werden, um die Koalition weiterhin aufrecht zu erhalten. Mit dem Rückhalt des Kunsthauses in der Öffentlichkeit und in der Szene schafft es der eine Teil des Kunsthauses, seine Interessen geltend zu machen und schmettert die Planung ab, um den von ihm gewünschten Status Quo zu erhalten.

3.3 Verhandlungszeit 1996-1998

Die folgenden zwei Jahre sind von immer wieder aufkeimenden Streitigkeiten zwischen dem Investor und dem Kunsthaus geprägt. Nach dem mißlungenen kooperativen Planungsansatz, der mit dem Boykott desselben endet, ist Fundus daran interessiert, das Tacheles-Grundstück zu erwerben und fortan eigene Planungen zu entwickeln. Dabei kommt dem Investor das Ende der Legislaturperiode 1995 später unerwartet zu Hilfe. Im Zuge der Wahlen wird Radunski neuer Kultursenator. Durch die Zurückziehung eines Einspruchs seines Vorgängers Roloff-Momin im noch schwelenden eigentumsrechtlichen Verfahren[7] erwirkt er die vorläufig endgültige Übertragung des eigentlich dem Land Berlin zugesprochenen Tacheles-Grundstückes an die Oberfinanzdirektion. Damit gibt er nicht nur das Grundstück, sondern auch die Verantwortung für die weitere Entwicklung an eine Institution auf Bundesebene ab. Diese ‚kulturpolitische Provinzposse‘ erregt in der öffentlichen Diskussion große Aufmerksamkeit. Radunski löst damit eine Ereigniskette aus: Die OFD muss das Grundstück gemäß dem Verwertungsgebot für Bundesimmobilien verkaufen. Für den Tacheles e.V. bedeutet dies entweder die Räumung des Hauses oder den Vertragsabschluss mit Fundus unter von dieser Gesellschaft diktierten Bedingungen. Eine Räumung hätte den Kultursenator allerdings politisch in Gefahr bringen können, da sich das Abgeordnetenhaus doch mit dem Pro-Tacheles-Beschluss für das Kunsthaus eingesetzt hat und der Senator nunmehr indirekt selbst dessen Räumung bewirkt hätte. Nach zweijährigen Streitigkeiten, unzähligen Räumungsklagen und Vermittlungsversuchen verschiedener Personen, im Zuge derer das Ansehen und die Unterstützung des Kunsthauses aufgrund überzogener Forderungen in der Öffentlichkeit schwindet, kommt es Ende 1998 zum Vertragsabschluss mit Fundus. Auch Fundus ist übrigens in gewisser Weise vom Kunsthaus abhängig, bildet das Kunsthaus doch einen wesentlichen Kern der Marketingkonzeption der Gesellschaft für die Immobilie.

3.4 2000 ‚Quartier am Tacheles’

Am Ende des 20. Jahrhunderts ist Berlin immer noch durch eine sich fortlaufend verschärfende wirtschaftliche Krise geprägt, die im Zusammenspiel mit der desolaten Finanz- und Haushaltslage die Handlungsspielräume seitens der Verwaltung und Politik noch stärker einschränkt. Einsparungen in sämtlichen Bereichen werden zur schwierigsten Aufgabe des Senates und prägen sein Handeln. 

Auch das Umfeld des Kunsthauses ist während der 1990er Jahre einem stetigen Wandel ausgesetzt gewesen: Die Oranienburger Straße hat sich inzwischen als beliebtes Ausflugsziel und Ausgehviertel etabliert. Viele Cafés, Gastronomieeinrichtungen und Galerien prägen das Straßenbild. Für viele Touristen ist das Viertel zur Attraktion avanciert. Auch das anliegende Regierungsviertel ist weitgehend fertig gestellt. Die Spandauer Vorstadt ist damit von Osten und Süden in ein hochwertiges Umfeld eingebettet und hat sich zu einer zentralen Lage gewandelt. Der Handlungsspielraum des Investors wird weniger von den sowieso praktisch eingefrorenen Bodenpreisen eingeschränkt als von den der wirtschaftlichen Stimmung entsprechend vorherrschenden Vermarktungsschwierigkeiten. Der schwache Immobilienmarkt und das geringe Niveau der erzielbaren Mieten machen diese Probleme deutlich. Fundus muss einfallsreich sein, um den gewünschten Erfolg zu erzielen.

Der beschriebene Wandel im unmittelbaren Umfeld des Kunsthauses und die aktuellen Vermarktungsschwierigkeiten spiegeln sich im Städtebau wider. Das nun geplante ‚Quartier am Tacheles’ führt die Tendenzen der Gentrifizierung in der Spandauer Vorstadt fort und treibt sie durch die unmittelbare Nähe von ‚Besetzerkultur’ und Luxusimmobilien auf die Spitze. Diese Ausgangssituation führt zu einer gezielten Verknüpfung des Städtebaus mit einer konkreten Marketingstrategie seitens des Investors, die von Beginn an auf Aufmerksamkeit und Spektakel ausgerichtet ist.

Nach einer Einigung mit dem Tacheles e.V. führt Fundus einen beschränkten städtebaulichen Wettbewerb durch, der die Entwürfe von Daniel Libeskind und Rob Krier in der Endauswahl hervorbringt. Dennoch vergibt Fundus, zum Erstaunen aller, letztendlich einen Direktauftrag an das Büro Duany / Plater-Zyberk, das ein bedeutender Vertreter des ‚New Urbanism’ ist und am Wettbewerb gar nicht teilgenommen hat.

 

Abb. 5: Visualisierung der städtebaulichen Merkmale ‚Quartier am Tacheles‘, Quelle: Eigene Darstellung

 

Abb. 6: Eingangssituation ‚Augustplatz‘, rechts: Flatiron-Building, links: Beresford-Building, Quelle: Broschüre: Quartier am Tacheles, Ein Projekt der Johannishof-Projektentwicklung GmbH& Co. KG., 2001

 

Der Städtebau in diesem Entwurf orientiert sich an traditionellen Raumstrukturen. Hinzu kommt eine Hofstruktur, wie man sie u.a. bei den Hackeschen Höfen vorfindet. Es wird nicht mehr eine Megastruktur produziert, sondern die Räume werden für unterschiedliche Nutzungen strukturiert. In der Nutzungsverteilung wird ersichtlich, dass eine ausgewogene Mischung von Wohnen, Arbeiten und Versorgung versucht wird. Das Hauptaugenmerk des Entwurfes liegt dabei auf Büro- und hochwertigen Einzelhandelsnutzungen. Beim Wohnen steht das Hochpreissegment im Mittelpunkt.

Es entsteht ein neuer städtebaulich dominanter Eingang von der Oranienburger Straße, der trichterförmig in die Höfe mündet, die auf die Straßenbahnhaltestelle an der Friedrichstraße führen. Dabei wird die spitze Ecke August- / Oranienburger Straße genutzt, um die Erschließung von Osten besser an die Tucholskystraße und die Hackeschen Höfe heranzuführen. In diesem Entwurf wird also eine völlig neue Eingangssituation geschaffen, die eine klare Verbindung zwischen der Oranienburger und der Friedrichstraße anstrebt, mit dem Ziel die Besucherströme der Oranienburger Straße ‚in das Gebiet zu ziehen’. Auf dem Gelände selber bietet sich Fundus die Möglichkeit, Besucher durch die Anordnung der städtebaulichen Strukturen gezielt bestimmten Nutzungen ‚zuzuführen’.

Der Import von bekannten Gebäudetypen, die bereits in New York existieren, ist geplant. Mit Hilfe dieser auffälligen Gebäude (z.B. das Flatiron-Gebäude) wird die Aufmerksamkeit auf und in das Viertel gelenkt und die neue Eingangssituation betont. Im Innern entsteht ein Wohnblock, welcher sich gestalterisch als Imitation an das Beresford-Gebäude in New York anlehnt. An der östlichen Seite des Viertels soll ein Luxushotel entstehen. Der Entwurf sieht über der Hofdurchfahrt an der Friedrichstraße und auf einem Wohnblock an der Johannisstraße bis zu 40 m hohe ‚Türmchen‘ vor, in denen Penthouse-Wohnungen liegen sollen. Generell soll das ganze Ensemble im neotraditionellen Stil entstehen.

Durch die Haupterschließung von der Oranienburger Straße her werden die Besucher am Tacheles vorbeigeleitet. Das Tacheles verliert nicht nur einen Großteil seiner Freifläche und den Zugang von der Friedrichstraße, sondern wird insgesamt aus dem Blockinnenraum verdrängt und in seiner Funktionalität stark eingeschränkt. Die Freifläche reduziert sich auf einen winzigen Rest und zwei kleine Höfe. Damit wird des Kunsthauses städtebaulich in den Hintergrund gerückt.

3.5 Erfolgsfaktoren oder „Zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“

Der Entwurf ‚Quartier am Tacheles‘ weist damit gegenüber der Konzeption ‚Ei am Tacheles‘ mehrere städtebauliche Mängel auf. Diese betreffen vor allem die fehlende Einbindung in die Umgebung und den geringen Freiflächenanteil. Zudem ist das Projekt ‚Quartier am Tacheles‘ auf eine kurzfristige, von Trends abhängige Rentabilität ausgerichtet. Dennoch hat die zuständige Bezirksverordnetenversammlung Mitte im Herbst 2002 den zur Absicherung dieses Konzepts entwickelten Bebauungsplan beschlossen. Baubeginn soll noch im Jahr 2003 sein.

Wieso konnte sich diese Planung durchsetzen? Drei entscheidende Erfolgsfaktoren lassen sich bestimmen:

 

·     Überfälligkeit: Zum Zeitpunkt des Entwurfes ist eine Entwicklung des Areals längst überfällig. Das Tacheles, der vorherige Joker und Standortfaktor, hat seine Bedeutung verloren, so dass die Position des Bezirks stark geschwächt ist. Im Zusammenspiel mit der finanziellen Schwäche der Stadt Berlin wird Fundus von öffentlicher Seite grundsätzlich unterstützt.

·     Schwäche des Kunsthauses: Die Rückendeckung der Politik geht mit einer Schwäche des Kunsthauses einher. Die zentrale Rolle des Tacheles, wie sie noch bei den ersten Entwürfen vorhanden war, konnte öffentlichen Druck erzeugen. Das im Laufe der Zeit jedoch gesunkene Ansehen des Vereins führt dazu, dass das Kunsthaus in eine Statistenrolle verfällt.

·     Vermarktungsstrategie und Stärke des Konzeptes: Die finanzielle Realisierung des Vorhabens ist an einen Immobilienfonds geknüpft. Damit ist Fundus von der Finanzkraft der Fondsanleger abhängig. Der Entwurf spielt mit dem Etikett des New Urbansim und schafft sehr genaue Vorstellungen und Bilder von der zukünftigen Entwicklung. Der New Urbanism und das Tacheles sorgen für Aufmerksamkeit in den Medien und der Fachöffentlichkeit. Mit der Erzeugung von prägnanten Bildern in Verbindung mit einem angesagten Lifestyle-Konzept wirbt Fundus um Fondsanleger und Nutzer. Darüber hinaus ist das Konzept auf der Höhe der Zeit und vollzieht die gegenwärtige Entwicklung der Spandauer Vorstadt nach.

·     Günstige Akteurskonstellation: Die politische Rückendeckung einzelner Personen auf Senatsseite verknüpft mit dem ‚Aussitzen von Entscheidungen‘ auf der Seite des Bezirksamtes und der Statistenrolle des Tacheles begünstigen das Handeln des Investors.

 

Anhand der drei Entwürfe am Kunsthaus Tacheles lassen sich Entwicklungen aufzeigen, die die Stadtentwicklung - nicht nur in Berlin – prägen und geprägt haben. Diese werden im Folgenden aufgegriffen und anhand des Planungsprozesses am Tacheles verdeutlicht.

4.  Veränderungen im Machtverhältnis öffentlicher und privater Akteure ‑ Abgabe kommunaler Verantwortung

In der Stadtentwicklung ist eine abnehmende Bedeutung der staatlichen Akteure und eine Verschlechterung der finanziellen Lage zu verzeichnen. Berlin ist durch die hohen öffentlichen Leistungen aufgrund der Wiedervereinigung und eine in den 1990er Jahren stark wachstumsorientierte Stadtpolitik davon in besonderem Maße betroffen. Das Beispiel des Tacheles zeigt, dass sich die Verwaltung und Politik für eine Abgabe der öffentlichen Verantwortung entscheidet und damit für eine einflussreiche Rolle des Investors. Nach den Vorschlägen des Investors ist hier eine Planung aufgestellt worden, die von der Gemeinde als Grundlage im Bebauungsplan nachvollzogen und nur geringfügig ‚nachgebessert‘ wird.

Im Laufe des Planungsprozesses hat sich die öffentliche Hand beständig ihrer Verantwortung entzogen und damit die Macht des privaten Akteurs gestärkt. Von der Seite des Bezirks wurden nach dem Scheitern des ‚Ei am Tacheles‘ kaum eigene Vorstellungen in die Planung eingebracht. Mit dieser weitgehenden Festlegung der planerischen Ziele durch den Investor wurde der wirtschaftliche Erfolg in den Vordergrund gestellt. Forderungen des Bezirksamtes nach sozialer Mischung und einem großen öffentlichen Platz für die Akteure des Kunsthaus Tacheles e.V., die noch den Entwurf ‚Ei am Tacheles‘ bestimmten, gerieten damit in den Hintergrund. Ein solches Verhalten bekommt mit dem Wechsel Radunskis in das Amt des Kultursenators entscheidenden Auftrieb und beeinflusst den Richtungswechsel maßgeblich. Eine Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse im Bezirksamt hat dagegen keinen erkennbaren Einfluss auf das Verhalten der öffentlich agierenden Akteure. Das vorherrschende Verhalten, Entscheidungen ‚auszusitzen‘, wird weitergeführt.

Die Bedeutung des Kunsthauses selber hat seit Mitte der 1990er Jahre stark abgenommen. Neben Schwierigkeiten im Management und einem damit verbundenen Austausch seiner Betreiber ist damit auch ein Bewusstseinswandel in Berlin verbunden. Wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren wird eine hohe Bedeutung zuerkannt. Die Zeit der Experimente ist vorbei. Dennoch stellt das Kunsthaus Tacheles aus unserer Sicht auch heute noch einen (öffentlich geförderten) Standortfaktor dar, der nach den Vorstellungen der Stadt und zum Nutzen der Bewohner langfristige Potenziale für den Stadtteil birgt. Mit der Abgabe kommunaler Verantwortung wurde hier aber die Chance vertan, den Standort adäquat zu entwickeln, wie die folgenden Schlusseinschätzungen belegen sollen.

4.1  Unzureichende Wahrnehmung von Handlungsspielräumen sowie unklare Entwicklungs- und Rollenvorstellungen

Mit der Stärkung des privaten Investors ist nicht zwangsläufig eine vollständige Abgabe kommunaler Verantwortung verbunden. Im vorliegenden Fall gelingt es der öffentlichen Hand jedoch nicht, ihre Handlungsspielräume richtig einzuschätzen und zu nutzen.

Die passive Haltung führt dazu, dass es an konkreten Vorstellungen und Konzepten für das Gelände mangelt. Der Investor hingegen tritt mit klaren und durchkalkulierten Vorstellungen auf und trifft auf eine schwache öffentliche Hand.

Vor diesem Hintergrund liegt hier keine gleichberechtigte Partnerschaft zur Bewältigung kommunaler Aufgaben vor. Die Verwaltung ist sich über die Konsequenzen ihres Handelns nicht klar und versäumt es, ihre Rolle neu zu definieren, anstatt sie komplett aufzugeben.

4.2 Trend zum Event / Themenmarketing

Der Investor beabsichtigt, das Projekt ‚Quartier am Tacheles‘ durch einen Immobilienfonds zu finanzieren. Dies führt einerseits zu einer hohen Ausnutzung des Grundstücks; andererseits zur Propagierung möglichst hohe Rendite versprechender Planungen für die Käufer der Fondsanteile. Die Planungen orientieren sich an den derzeitigen Schwerpunkten der Fundusgruppe in den Bereichen Wellness, Tourismus und Luxusimmobilien. Am ‚Quartier am Tacheles‘ schlägt sich dies in einem Luxushotel, einem Luxusappartementhaus (Tacheles-Residence), und hochwertigem Einzelhandel nieder.

Der Entwurf von Duany integriert postmoderne Erlebniswelten in den urbanen Kontext, geht somit auf das Konsumverhalten der Nutzer ein und greift die Tendenzen zur Erlebnis-Stadt auf. Die Spannung der Zäsur zwischen Luxusviertel und Besetzerhaus wirkt hier als Anziehungspunkt. Das Kunsthaus Tacheles stellt mit seiner großen Freifläche eine der letzten Bastionen der sogenannten Off-Kultur dar. Zwar wird die Authentizität immer wieder bezweifelt und ist das Kunsthaus mittlerweile als Touristenattraktion verschrien; dennoch befriedigt es offensichtliche Bedürfnisse seiner Besucher nach einer derartigen Institution in der Spandauer Vorstadt. Der Neuplanung der Fläche wird mit dem Kunsthaus Tacheles eine Geschichte, ein Erlebniswert gegeben.

4.3 Konsens- und Vermarktungsmittel New Urbanism?

Besondere Aufmerksamkeit erlangte die Duany-Planung durch die Verbindung zum New Urbansim. Im Vordergrund stand die Frage, ob die Planung am Tacheles der Startschuss für den Import des New Urbanism in Deutschland ist. Auch wenn die Planung am Tacheles sicherlich einige Charakteristika des New Urbanism[8] aufweist, betrachten wir den New Urbanism hier in erster Linie als ein Mittel, um Konsens herzustellen und als einen ‚Vermarktungsgag’ des Investors. Im Folgenden soll kurz auf die wesentlichen Kritikpunkte eingegangen werden.

Die Planung am Tacheles entspricht nicht den Anforderungen der ‚Charta des New Urbanism’. Auf die Geschichte des Grundstücks (Einkaufspassage der 1920er Jahre, AEG Haus der Technik, Kino) und die Geschichte der Spandauer Vorstadt als Armen- und Judenviertel, so wie es der New Urbanism eigentlich vorsieht, wird kaum eingegangen. Stattdessen wird versucht, eine amerikanische Version der Großstadt nach Berlin zu importieren.

Mit dem neotraditionellen Stil wird hier vor allem die Gestaltungsweise des New Urbanism übertragen. Diese deckt sich am ‚Quartier am Tacheles’ mit den Vorstellungen des Investors, ‚prime properties’ zu erstellen und dem Anliegen, hier einen ‚Standort zu machen’. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und die Debatten über den New Urbanism haben stark zur Aufmerksamkeit der Planung beigetragen, von denen letztlich der Investor profitiert.

Mit dem New Urbanism wird die oben genannte Vermarktungsstrategie, die Thema, Geschichte und Erlebniswert eines räumlichen Bereichs in den Vordergrund stellt, aufgegriffen und weiterentwickelt. Am Beispiel des Tacheles lassen sich Trends der Immobilienbranche zum Event- und Themenmarketing, die sich auch im New Urbanism widerspiegeln, aufzeigen. Durch die Analyse der Planungen und Handlungen der Akteure am Tacheles wird besonders deutlich, dass diese Trends von den beteiligten Planern angenommen, die Konsequenzen für die Allgemeinheit bei ihren Handlungen allerdings nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

Von einem Einzug des New Urbanism kann also keine Rede sein, eher könnte vom Erfolg des ‚labels‘ New Urbanism gesprochen werden. Am Ende des Planungsprozesses setzte sich ein Entwurf durch, der es am besten verstand, zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige anzubieten.



[1]    Die Ergebnisse fußen auf einer Schwerpunktarbeit im Hauptstudium am Institut für Stadt- und Regionalplanung an der TU-Berlin.

[2]    Zum Beispiel diente es in den 20er Jahren AEG als ‚Haus der Technik’ für Ausstellungszwecke. Zu DDR-Zeiten waren hier u.a. eine Artistenschule, das deutsche Reisebüro und das Kino ‚Camera’ untergebracht.

[3]    Alle Angaben zur Geschichte unter: www.dhm.de/museen/Berlin-mitte, Stand: 26.04.2002

[4]    KOAI: Koordinierungsausschuss für innerstädtische Investitionen, temporärer Zusammenschluss/Bündnis entscheidender Akteure auf Senatsebene, welches Großbauvorhaben in der Stadt koordinieren, beschleunigen und betreuen sollte.

[5]    Das Abgeordnetenhaus beschloss im Januar 1993 auf Antrag der Grünen im November 1992 die dauerhafte Sicherung des Kulturstandortes Tacheles.

[6]    Trotz Fortführung der Großen Koalition im Zuge der Wahlen 1995 gibt es personelle sowie strukturelle Änderungen. Das Amt des Senators für Bau- und Wohnungswesen wird zur Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr zusammengelegt und nun von Klemann (CDU) geführt. Der vormalige Senator Nagel (SPD) scheidet im Zuge dessen aus der Politik aus und tritt eine zentrale Position in der Geschäftsführung von BREDERO an, einem Tochterunternehmen von Fundus, welches mit der Projektentwicklung beauftragt ist. Damit fällt Nagel eine zentrale Rolle am Tacheles-Areal zu. Für das ‚Ei am Tacheles’ zieht dieser Personenwechsel im Akteurskern Streitigkeiten zwischen den einzelnen Kooperationspartnern nach sich.

[7]    Das Land Berlin und der Bund befanden sich zur damaligen Zeit in einem Rechtsstreit. Das Tacheles-Grundstück wurde im Zuge der Klärung der Eigentumsverhältnisse nach der Wende zunächst dem Bund zugesprochen, woraufhin das Land Berlin Einspruch erhob und somit bis zur Klärung noch ‚Eigentümerin‘ blieb. 

[8]     Der New Urbanism misst der Funktionsmischung und sozialen Mischung eine hohe Bedeutung zu und zeichnet sich durch eine Vielfalt der Gebäudetypen und der besonderen Beachtung des öffentlichen Raums aus. Dabei werden die in der von der Bewegung New Urbanism herausgegebenen ‚Charta des New Urbanism‘ formulierten Ansprüche an die Planung vor allem in gestalterischer Hinsicht berücksichtigt. Die Aspekte der sozialen Mischung dagegen werden in der Regel den wirtschaftlichen Bedingungen untergeordnet. So sieht die Theorie des New Urbanism zwar einen Gegenentwurf zu den Entwicklungen der amerikanischen Stadt, zu Suburbanisierung und ‚urban sprawl‘ vor; in der Praxis entstehen unter dem Namen des New Urbanism aber vor allem suburbane Wohnsiedlungen für die weiße Mittel- und Oberschicht. [vgl. Susan Fainstain: New Directions in Planning Theory, in: Urban Affairs Review, Vol. 35, No. 4, March 2000, pp. 451-47]