Markus Hesse

Der Umgang mit Mobilität und Verkehr

im Rahmen strategischer Stadtpolitik, oder:

Auf der Suche nach Verkehrskompetenz

Das Beispiel der Berlin-Studie

1.  Vorbemerkung/Einführung

Mobilität und Verkehr werden in diesem Beitrag als Gegenstand strategischer Stadtpolitik betrachtet. Dabei wird auf einen neuen Ansatz in der Stadtentwicklung rekurriert, der im Kontext veränderter Rahmenbedingungen spätestens seit Mitte bis Ende der 1990er Jahre diskutiert wird (Brake 2001). Diese Rahmenbedingungen sind insbesondere gekennzeichnet durch den forcierten ökonomischen Strukturwandel, die informationstechnischen Umbrüche, soziale Ausdifferenzierungsprozesse und die umfassende Deregulierung in Politik und Planung (vgl. etwa Beck/Bonß 2001).

Die Grundthese ist, dass auf dieses veränderte Umfeld mit den tradierten Leitbildern und Instrumenten von Politik und Planung nicht mehr angemessen reagiert werden kann. Neue Strategien sind gefragt. Dies gilt vor allem für die Stadtentwicklung und erst recht für den Bereich Mobilität und Verkehr. Dieses Handlungsfeld, das sowohl Be­weglichkeit im Raum im weiteren Sinne als auch physische Ortsveränderungen umfasst, hat sich in der Vergangenheit sehr dynamisch entwickelt. Dies liegt in seiner Eigenschaft als Ergebnis und Katalysator des skizzierten Wandels begründet. Gleichzeitig haben die Folgelasten des Verkehrs erheblich zugenommen. Es spricht viel dafür, dass dies auch in nächster Zukunft so sein wird. Mithin dürften sowohl der kurzfristige Handlungsbedarf als auch die Nachfrage nach längerfristigen Orientierungen steigen.

Auf diesen beiden Zeitachsen soll auch die Berlin-Studie Orientierung geben, in deren Kontext dieser Beitrag steht (Arbeitsgruppe Berlin-Studie/Der Regierende Bürgermeister 2001). Die Berlin-Studie wurde zwischen 1998 und 2000 erarbeitet und steht in einer Reihe mit Städtestudien, die die Europäische Kommission für die Stadtregionen London, Wien und Berlin angeregt und unterstützt hatte. Ziel war es, neue Antworten auf die Herausforderungen der Stadtpolitik zu finden, neue Allianzen für die Umsetzung von Strategien zu schmieden und auf diese Weise auch die Problemlösungskompetenz der lokalen Ebenen zu erhöhen. Absicht des Handlungsfeldes Mobilität und Verkehr im Rahmen der Berlin-Studie war es, Grenzen aktueller Konzepte zu überwinden und Bewegung in den oft als „festgefahren“ empfundenen Sektor zu bringen. Es ging also um eine Skizze innovativer Politikbausteine. Ziel war nicht die Formulierung eines Gesamtprogramms für den Verkehr, sondern die Entwicklung von Ideen, die repräsentative Blockaden im Handlungssystem auflösen könnten.

Der folgende Beitrag skizziert den Begründungsrahmen der Studie, stellt die seinerzeit formulierten Vorschläge vor und fragt danach, was in der Zwischenzeit passiert ist.

2.  Zum Charakter von Mobilität und Verkehr in der Stadtpolitik

Mobilität und Verkehr sind aus Sicht einer zu­kunftsorien­tierten Stadtentwicklung von besonderer Bedeutung. Dieser Bereich stellt aber zugleich­ hohe Anforderungen an die Fähigkeiten zur Problemlösung. Der schwie­rige Charakter dieses Gegenstandes lässt sich mit wenigen Stichworten kenn­zeichnen als

 

·     dynamisch wachsend (vor allem Pkw-Verkehr außerorts, Güterfernverkehr, Luftverkehr),

·     konfliktreich (viele konkurrierende Ansprüche und Interessen) und

·     offenbar hochgradig steuerungsresistent.

 

Mobilität und Verkehr sind eng in die ökonomische, gesellschaftliche und räumliche Entwicklung eingebettet. Aufgrund dieser Ei­genschaft und der Querschnittsfunktion, die Mobilität in der modernen Gesell­schaft übernimmt, ist sie Folge und Voraussetzung unterschiedlicher Fakto­ren und Einflussgrößen. Die Steuerbarkeit dieses Strategiefeldes erscheint daher zunächst begrenzt, nicht zuletzt wegen der hohen Komplexität. Das populäre Ziel der nachhaltigen Entwicklung hat dieses Problem aufgrund seiner mehrdimensionalen Anlage (Ökolo­gie, Ökonomie, Soziales) durchaus verschärft. Insofern ist die zentrale Frage im Verkehrssek­tor nicht allein der angestrebte Zielzustand (Was soll sein?), sondern auch die Frage da­nach, wie und von wem dieser Zustand realisiert werden soll. Hinzu kommt die grundsätzliche Frage danach, ob das „Bild“ von Mobilitätsbedürf­nissen und Verkehr, das Politik und Planung gemeinhin zu Grunde liegt, der Realität überhaupt an­gemessen ist.

Der Versuch, Mobilitätsbedürfnisse und Verkehr über die Stadtentwicklung zu steuern, verursacht erhebliche Zielkonflikte und konkurrie­ren­de Interessen. Auf der einen Seite dominiert weiterhin das Leitbild der Erreichbar­keit und Verkehrsfunktionalität, das im Zuge des verschärften ökonomischen Wettbewerbs an Bedeutung gewonnen hat. Wirtschaftliche Prosperität wird eng an die Voraussetzung einer funktionierenden Verkehrsinfrastruktur gebun­den. Auf der anderen Seite werden die objektiv vorhandenen negativen Folgen des mo­torisierten Verkehrs zum Thema gemacht. Das Ziel der Stadt- und Umweltverträglichkeit ist zumindest vorübergehend in den Mittelpunkt der Politik gerückt. Die­ konkurrierenden Positionen sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Grundkon­flikts und stehen bisher noch weitgehend unvermittelt gegenüber.

3.  Spezifika von Verkehrsraum und Handlungsmilieu in Berlin

Diese allgemeinen Bedingungen stellen sich in Berlin durchaus verschärft dar. Denn hier erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Thema Mobilität und Verkehr in einem gesellschaftlich und raum-zeit­lich sehr viel komplexer gewordenen Umfeld. Die jahrzehntelang geschützte und subventionierte Stadtöko­nomie vollzieht heute die Einbindung in die Marktwirtschaft zugleich unter den Bedingungen der Globalisierung. Dies hat eine signifikante Ausdehnung der wirtschaftlichen Aktionsräume zur Folge. Der Bedeutungszuwachs des Berliner Stadtumlands infolge der Suburbanisierung bewirkt mehr Verkehr, durch Entfernungszu­nahme und Dispersion von Wegen in der Alltagsmobilität. Schließlich ist von einer Flexibilisierung individueller Raum-Zeit-Regimes auszugehen; diese resultiert nicht nur aus der wachsenden sozial-räumlichen Ausdifferen­zierung der Stadtgesellschaft, sondern auch aus der massiven Wanderungsdynamik seit der Wende.

Der Verkehrsraum Berlin (als Teil der Region Berlin-Brandenburg) bietet einerseits gute Voraussetzungen für erfolgversprechende politische Initiativen, insbesondere mit Blick auf die räumliche bzw. stadtstrukturelle Ausgangssituation. Diese zeichnet sich durch Dichte und Viel­falt, ein historisch „gewachsenes“ öffentliches Verkehrsnetz in der Region wie auch überregional aus (wobei das städtische Verkehrsnetz in der Wahrnehmung durch Außen­stehende nicht selten besser abschneidet als durch seine täglichen Nutzer). Hinzu kommen ein ho­hes Maß an räumlicher Binnenorientierung der Wohnbevölkerung sowie der kalkulierbare Ablauf der Suburbanisierung. Der politisch-planerische Anspruch ist recht hoch und bewegt sich auf dem Stand der allgemeinen fachlichen Diskus­sion (vgl. Kunst/Blümel 1999).

Gegenüber diesem programmatischen Anspruch fallen Umsetzung und Relevanz der in Berlin verfolgten Maßnahmen deutlich ab. Die bisherige Politik- und Planungspraxis genügt weder den hohen eigenen An­sprü­chen (beispielhaft: die angestrebte 80:20-Verkehrsteilung zwischen ÖV und MIV in der Berliner Innenstadt; der regio­na­le Verkehrstechnik-„Cluster“) noch dem anderenorts erreichten Stand etwa der inte­grier­ten Förderung von öffentlichem und nichtmotorisiertem Verkehr. Die reale Verkehrsentwicklung ist von „Zukunftsfähigkeit“ weit entfernt: Anhaltend hohe Anteile des Kfz-Verkehrs, deutliche Verluste des Nahverkehrsunternehmens BVG in den 1990er Jahren (bei Zuwächsen der S-Bahn), Rückgang von Bahn und Binnenschiff im Güterverkehr sowie eine randständige Rolle der nichtmotorisierten Mobilität kennzeichnen das Berliner Verkehrsbild. Luftschadstoffe beeinträchtigen die Gesundheit und die Lebensqualität weiterhin. Über 400.000 EinwohnerInnen an Hauptverkehrsstraßen sind unzulässig hohen Lärmbelastungen ausgesetzt (aktuelle Daten: www.stadtentwicklung-berlin.de). Trotz seines dichten Bus-, U-Bahn-, S-Bahn- und Tramnetzes gilt Berlin als „Autofahrerparadies“.

Die Ursachen des „Berliner Problems“ liegen jedoch tiefer, als es Thesen vom Nachholbedarf in der Infrastrukturpolitik nach der Wende und vom Innovationsbedarf hinsichtlich moderner Technologien – beides populäre „Erzählungen“ in der Region – suggerieren. Es geht nur zum Teil auf den Mangel an tech­ni­schen oder organisatorischen Innovationen zurück, so dass neue Produkte, Verkehrssysteme, Organi­sations­for­men und Technologien hier nur bedingt Abhilfe schaffen würden. Das Problem hat vielmehr mit dem Unvermögen zu tun, einen tragfähigen Kompromiss zu finden und das theoretisch als richtig Erkannte auch um­zusetzen. Die ver­fes­tigten In­teressenstrukturen der jeweiligen programmatisch-ideolo­gi­schen Lager er­schweren eine Verständigung über solche Kompromisse ganz er­heblich.

Insofern ist es erforderlich, die spezifischen Umsetzungsbedingungen und ‑kontexte für Maßnahmen im Raum Berlin-Brandenburg in den Blick zu nehmen. Es hat we­nig Sinn, vermeintlich „innovative“ Lösungsansätze aus Verkehrstechnik und ‑planung in einem politischen Handlungskatalog zu subsumieren, ohne danach zu fragen, wa­rum die bisher in Berlin unter dem Dach einer durchaus anspruchsvollen Pro­gram­ma­tik verfolgten Strategien offenbar nicht dazu geführt haben, das Problem zu lösen. Die Umsetzung von Innovationen erfolgt in einem gesellschaftlichen und politi­schen Raum; sie ist von fördernden und blockierenden Rahmenbedingungen beein­flusst. Es bedarf daher der systematischen Auseinandersetzung mit Um­setzungschancen und -barrieren.

4.  Auf der Suche nach Verkehrskompetenz

Im Berliner Handlungsmilieu ist die Konkurrenz der möglichen „Lösungen“ idealtypisch repräsentiert. Auf der einen Seite wird in Verkehrspolitik und ‑planung einem informationstechnologischen Paradigma (Telematik) Lösungskompetenz zugeschrieben. Die bes­se­re Organisation und räumliche, zeitliche sowie modale Verteilung des vorhandenen Ver­kehrs, wesentlich ermöglicht durch die neuen Informations- und Kommunikations­tech­niken, durch Verkehrsleitsysteme, satellitengestützte Navigation etc. wird als Schlüsselfrage für die Zukunft angesehen. Dazu gibt es im Raum Ber­lin-Brandenburg eine Vielzahl von Aktivitäten. Sie verfolgen vorrangig wett­bewerbsökonomische Ziele: Berlin soll als „Kompetenzregion“ in der Ver­kehrstechnik etabliert werden. Beide Ziele – Strukturpolitik und Verkehrsbeeinflus­sung – sind nicht notwendigerweise kongruent.

Auf der anderen Seite wird erwartet, dass Verkehrsplanung und ‑politik ei­nen Beitrag zur Reduzierung des motorisierten Verkehrs leisten, vor allem durch För­derung der Verkehrsmittel des sog. Umweltverbundes und durch Einschränkung des Kfz-Verkehrs. Die Erfahrungen, die mit diesem Politikziel bisher – innerhalb und au­ßerhalb Berlins – gemacht wurden, sind allerdings wenig ermutigend. Es bleibt offen, inwieweit diese Bilanz auf die falschen Strategien und In­stru­mente, auf nicht-intendierte Nebenfolgen, mangelnden politischen Wil­len bzw. pla­nerisches Unvermögen oder fehlende gesellschaftliche Akzep­tanz zurück­geht. Dem hohen Anspruch stehen aber kaum entsprechende Handlungsstrategien gegenüber: Auf der einen Seite pokern die diesbezüglichen Akteure sehr hoch, bis hin zur Rede vom „Weltkompetenzzentrum Verkehr“ (Tagesspiegel 09.11.2001); andererseits fallen die überprüfbaren Resultate noch recht bescheiden aus.

Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass es bisher nicht gelungen ist, eine konstruktive Verbindung zwischen dem in­for­mations-tech­ni­schen Politikpfad bzw. Paradigma und dem stadt- und verkehrsplanerischen Handlungsmilieu herzustellen. Dies ist auch ein Problem der gängigen „Produktion von Wissen“: Die im hiesigen Diskurs dominanten Wissensmilieus sind getrennt voneinander entstanden, folgen verschiedenen Modi der Wissensproduktion, sind gegenseitig tendenziell abgeschottet. Ihre systematische Verschränkung wä­re vermutlich notwendige Voraussetzung für eine Problemlösung. Die „Sperrigkeit“ des Verkehrs, die Konkurrenz der verschiedenen Politikan­sät­ze und die Abwesenheit eines überzeugenden Steuerungsmodells bilden den äu­ße­ren Rahmen für ein neues strategisches Konzept. Kon­kre­te Vorschläge müssen sich daran messen lassen, inwieweit sie diesen Herausforderungen gerecht werden können, ohne gleichzeitig an den be­kann­ten Umsetzungsbarrieren zu scheitern.

5.  Ziele und Strategien ‑
Der Politikansatz der Berlin-Studie

Mit Blick auf diesen Anspruch und die Gesamtstrategie der Berlin-Studie sind Ziele und Maßnah­men im Bereich „Mobilität und Verkehr“ durch einen strategiegeleiteten Realitätssinn gekennzeichnet. Dieser Politiktyp will einerseits keine uneinlösbaren Versprechen abgeben, vor allem nicht auf Seiten der Planung, andererseits aber langfristige Zielkorridore verfolgen. Strategisch geht es dabei um:

 

·     Orientierung an dauerhafter Verbesserung der Gesamtsituation statt an spektakulären Einzelvorhaben,

·     Schwerpunktsetzung auf organisatorischen Ansätzen statt vorrangig auf baulichen Lösungen,

·     Orientierung an einer Beeinflussung der Verkehrsnachfrage, statt einseitig neue Angebote vorzuhalten,

·     gemeinsame Realisierungsverantwortung in der Hand privater und öffentlicher Akteure,

·     öffentliche Diskussion und Vermittlung von Grenzen der Verkehrsmöglichkeiten, zivile Austragung von Interessen- und Nutzungskonflikten.

 

Die daraus folgenden Maßnahmen vertreten nicht den Anspruch auf sensationell Neues. Wichtiger als die temporäre Ausrufung von „Modellprojekten“, mit denen die Verkehrspolitik hoch pokert (aber nicht selten tief fällt), wäre die systematische, konsequente Verfolgung eines Handlungspfades, der die alltägliche Dimension von Mobilität und Verkehr mit der Entwicklung strategischer Visionen und Problemlösungskompetenzen verknüpft. Dieser Weg sollte auf einer diskursiv erzielten gesellschaftlichen Mehrheit aufbauen und von zivilen und politisch-administrativen Akteuren gegangen werden. Die Maßnahmen sollen dazu beitragen, den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu verbessern, ohne soziale Polaritäten zu verschärfen, sie sollen die Belastungen für Umwelt und Stadtraum durch den Verkehr reduzieren (bezogen auf Lärm, ausgewählte Emissionen, Verkehrssicherheit, Brauchbarkeit des Stadt­raums). Schließlich sollen sie allgemeine Erkenntnisse zur Problemlösung beför­dern, die im Erfolgsfall auch anderenorts angewendet werden können.

6.  Zur Ausrichtung der Vorschläge (Stand 2000)

Absicht der hier skizzierten Vorschläge ist es, Auf­ga­ben zur künftigen Gestaltung von Mobilität und Verkehr für und in Berlin zu benen­nen, die sowohl die Realisierung anerkannter Routineaufgaben als auch neue Pro­blemlö­sungsansätze umfassen.

Hausaufgaben

Soweit man von einem „Berliner“ Politik- und Planungstypus im Bereich Mobilität und Ver­kehr sprechen kann, ist dieser zunächst durch einen spezifischen Nachholbedarf in der Erledigung von Rou­tine­aufgaben gekennzeichnet. Als vordringlich gilt es, die Abwärtsspi­rale des im Grundsatz eigentlich hervorragend konfigurierten öffentlichen Nah- und Regionalverkehrssystems zu stoppen und die in den vergangenen zehn Jahren ab­gewanderten Fahrgäste innerhalb der Hälfte der Zeit (also in fünf Jahren) für das Sys­tem zurückzuholen. Hier muss es zu einer qualitäts- und quantitätsori­entierten „Offensive“ für den öffentlichen Verkehr kommen. Diese Modernisierungsoffensive (bestehend aus kurzfristig spürbaren Angebotsverbesse­run­gen durch dichte Fahrplantakte, zeitgemäße Informations- und Serviceleistungen, Weiterentwicklung des Qualitätsmanagements, neue Dienstleistungen) ist zu verbin­den mit einem tragfähigen Unternehmenskonzept, das die Zukunft des ÖPNV unter Wettbewerbsbedingungen sichert.

Innovationsaufgaben

Neben dieser Hausaufgabe stellt sich außerdem eine „Innovationsaufgabe“: Es geht darum, die Rahmenbedingungen für eine Ausdifferenzierung des traditionellen ÖV zu einem flexiblen, bedürfnisgerechten Mobilitätsangebot zu schaffen, parallel zur Flexibilisierung der Mobilitätsbedürfnisse. Dazu bietet Berlin viele Potenziale und Anknüpfungspunkte: Vielleicht ist es kein Zufall, dass Berlin die „Geburtsstätte“ des Car-Sharing in Deutschland ist und nach wie vor wich­tiger Ort seiner Anwendung. Flexible Mobilitätsangebote sind die richtige Antwort auf die Flexibilisierung der Lebensverhältnisse (Arbeitszeiten, Ar­beits­orte, Freizeitgewohnheiten). Dazu können neue Nut­zungs­konzepte gehören (wie Car-Sharing), Quartiersbusse, Anruf-Sammeltaxen, Paratransit (orga­nisierte Mitnahme), betriebliche Mobilitätsangebote, aber auch im Bereich des Verkehrsumfeldes neue Tätigkeitsmuster, wie etwa Telearbeit oder neue Informa­tions- und Kommunikationsdienste.

Politikrelevanz/Umsetzungsbedingungen

Die einzelnen Bausteine zielen auf die systematische Einbettung von Mobilität und Verkehr in die Stadtentwicklung. Damit ist nicht nur Stadt als baulich-räumliches Gebilde gemeint, sondern auch als Ausdruck individuellen Lebens wie als Teil gesellschaftlicher Organisation. Diese Einbettung umfasst insofern mehr als die traditionellen Ansätze zur „integrierten Planung“. Es geht zum einen darum, dass der Stadtraum nicht primär unter dem Aspekt der Verkehrsfunktion betrachtet wird, sondern einen eigenständigen Stellenwert als Lebens- und Aufenthaltsraum besitzt. Zum anderen ist Mobilität, vor allem der massenhafte Kfz-Verkehr, in der Stadt als grundsätzlich knappe Ressource anzusehen, die nie „frei fließen“ kann. Sie ist durch vielfältige constraints per se begrenzt, selbst in Berlin.

Als Konsequenz daraus ist zu klären, wie die entsprechenden Nutzungskonflikte gelöst werden sollen: durch bauliche Expansion, durch informationstechnische Optimierung, durch Monetarisierung der Raumnutzung, durch politische Verständigung ...? Konsens müsste dahin gehend bestehen, dass es weder eine einzige dominante, „totale“ Problemlösung geben kann, noch dass der Versuch der Anpassungsplanung sinnvoll und erfolgreich sein kann: Wer die Stadt mehr oder weniger konsequent an die Erfordernisse des Verkehrs anzupassen versucht, wird scheitern. Es muss vielmehr darum gehen, die Mobilitäts- und Verkehrsorganisation so weit wie möglich an die Stadt anzupassen. Die schrittweise Lösung des Mobilitäts- und Verkehrsproblems setzt dazu erstens eine mehrdimensionale, integrierte Strategie voraus; deren Realisierung ist zweitens nicht nur eine Aufgabe des zuständigen Ressorts, sondern der Gesellschaftspolitik. Für beide Felder hat die Berlin-Studie konkrete Vorschläge gemacht: nicht im Sinne eines vollständigen Katalogs, sondern mit Blick auf Schlüsselprojekte. Sie sind gemeinsam von privaten und öffentlichen Akteuren anzugehen und sollten den Streit um den Verkehr produktiv voran bringen.

 

Übersicht über die Maßnahmenvorschläge der Berlin-Studie (Stand 2000)

1     Differenzierte Mobilitätsangebote für Stadt und Region

Als Resonanz auf den sich vollziehenden sozialen und räumlichen Wandel in der Region im Lichte von Flexibilisierung, Individualisierung und Suburbanisierung wird die Notwendigkeit zur Entwicklung neuer, daran angepasster Mobilitätsange­bote gesehen. Sie sollen vorhandene Systeme des öffentlichen Verkehrs dort ergänzen, wo diese nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben sind, ohne sie zu ersetzen. Das Ziel ist ein Verbund aus privaten und öffentlichen, individuellen und kollektiven, motorisierten und nichtmotorisierten Verkehrsmitteln, der ein Höchstmaß an individueller Mobilität mit Stadtverträglichkeit verbindet. Räumliches Experi­mentierfeld hierfür sind die Randbereiche des Verdichtungsraums, die bisher vorwiegend der Pkw-Mobilität vorbehalten sind. Dieser Ansatz bietet auch strategische Antworten auf den durch Suburbanisie­rung induzierten zusätzlichen Kfz-Verkehr, der vermutlich nicht für eine Verlagerung auf den klassischen öffentlichen Verkehr geeignet ist.

Damit verbindet sich eine Abkehr vom traditionellen Begriff der „Infrastruktur“, der heute weniger als baulich-technische Hardware und Unterbau, sondern stärker als intelligente Organisationsleistung zu verstehen sein wird. Mobilität und Verkehr wer­den – wenn überhaupt – künftig immer weniger über die pauschale Vorhaltung von Angeboten, sondern zunehmend über die Nachfrageseite gesteuert werden müssen. Dieser Verständniswandel sollte auch Konsequenzen für die Infrastrukturpolitik der nationalen Regierungen sowie der EU haben. Er bietet insofern Ansatzpunkte nicht zur Subvention von Betriebskosten des öffentlichen Verkehrs, sondern für einen mög­lichst treffsicheren Einsatz von Mitteln.

 

Aufgabenstellung:    Entwicklung differenzierter Verkehrsangebote für solche Nach­fra­gestrukturen, die zwischen privaten Pkw und tradi­tio­nellen öffentlichen Verkehrsmitteln angesiedelt sind („Hybri­de“)

bisherige Beispiele:   nur ausschnitthaft vorhanden, insbes. Car-Sharing in Städten, differenzierte Bedienungsformen in weni­gen ländlichen Regionen (z.B. als Rufbus), aber nicht als inte­grierte Lösungen

Startprojekt:           Durchführung von „Voruntersuchung, Marktab­schät­zung und Entwicklungskonzept“ für integrierte Mobilitäts­konzepte an einem ausgewählten Entwicklungsstandort (Wohnen und mobil sein ...).

Zeithorizont:          mindestens fünf Jahre

Umsetzung:            Federführend von den Verkehrsunternehmen (BVG/Bahnen, Statt­auto, Taxigewerbe), mit Unterstützung durch Inve­s­toren und Bauträger sowie öffentliche Akteure

2     Gestaltungsrahmen für Güterverkehr und Logistik

Der Bereich Güterverkehr und Logistik repräsentiert in der Region Berlin-Brandenburg einerseits ein erhebliches Verkehrs- und Umweltproblem, ist andererseits aber auch durch zahlreiche Vorarbeiten und -erfahrungen in Politik und Planung gekennzeich­net. Einige Handlungsfelder, etwa die Baulogistik, gelten im überregionalen Maßstab als vorbildlich. Allerdings wird gleichzeitig auch eine Diskrepanz zwischen dem hohen programmatisch-konzeptionellen Anspruch und den bisher noch sehr begrenzten Umsetzungs- (vgl. die Probleme des kombinierten Ver­kehrs in den Güterverkehrszentren/GVZ) und Wirkungsresultaten (Ver­kehrs- und Umweltentlastung) festgestellt.

Dieser Widerspruch geht u.a. auf die begrenzten Möglichkeiten der Planung zurück, unternehmerische Dispositionen im Kern zu beeinflussen. Im Sinne einer Verstetigung der bisherigen Ansätze von logisti­schen Netz­knoten (GVZ) oder Optimierungsmodellen (City-Logistik) bleibt die Frage, welche Anreize den Unternehmen gegeben werden können, um Infrastrukturen oder Straßenraum so zu nutzen, dass die geringstmöglichen Belastungen verursacht wer­den. Die Nutzung des Straßennetzes sollte nun so gesteuert werden, dass die an­visierten Effekte der Umwelt- und Verkehrsentlastung nachprüfbar wirksam werden. Raum- und zeitbezogene Verkehrsbeschränkungen, die in diesem Kontext bisher an­ge­dacht wurden, haben sich als wenig praktikabel erwiesen oder werden kaum ak­zep­tiert. Statt dessen sollten marktwirtschaftliche Instru­mente ergänzend zu ordnungsrechtlicher und planerischer Gestal­tung erprobt werden. Um­ge­kehrt: Die Steuerungsdefizite im Verkehrsbereich lassen sich auch da­mit erklären, dass eine planerische Intervention abgelehnt wird, die komplementär da­zu notwendige ökonomische Steuerung aber ebenfalls nicht zum Zuge kommt. Überlegungen für einen Einsatz von Preisinstrumenten (Parkraum­bewirtschaftung, Road pricing) sollten konkretisiert werden, hier be­zogen auf einen Pilotversuch zur Einführung von Road pricing auf überlasteten Streckenabschnitten des Straßennetzes bzw. in Teilbereichen der Innenstadt. Ein solcher Pilotversuch bedarf der sorgfältigen Vorbereitung, der gut begründeten Auswahl ei­nes Erprobungsfeldes und der behutsamen, schrittweisen Einführung (incl. der Ab­schätzung nicht-intendierter Effekte).

Ein zweites Aufgabenfeld im Bereich des Güterverkehrs ist die Entwicklung von Lö­sungsansätzen auf der lokalen Ebene, da sich die bisherigen Modelle überwiegend auf die Optimierung von Fernverkehren konzentrieren, nicht selten auf Kosten eines steigenden Nahverkehrsaufkommens. In Weiterführung des bisherigen Konzeptes zur Errichtung von Güterverkehrssubzentren könnte eine „Nachbar­schaftslogistik“ etabliert werden, zur Optimierung von Waren- und Güterströmen auf der Ebene eines Quartiers – also oberhalb der bisherigen einzelbetrieblichen, aber unter­halb der Gesamtstadt. Die Optimierung der lokalen Ziel- und Quellverkehre betrachtet einen städtischen Teilraum analog zu einem (gro­ßen) Unternehmen und versucht die logistische Organisation (bessere Planung und Abstimmung von Warenströmen, Bündelung von Frachten) zu verknüpfen mit stadt­räumlicher Steuerung (Anreize, Vorteile, Gebote, Restriktionen).

 

Aufgabenstellung:    Optimierung des Güterverkehrs im stadträumlichen Kontext

bisher. Beispiele:     Güterverkehrszentren, Platt­form Wirtschaftsverkehr (Berlin), Zustelldienste

Startprojekte:          Initiierung eines „Road pricing“-Modellversuchs, unter Hinzuziehung des Entwicklungs- und Anwendungs-Know-hows der Region; Nachbar­schafts­logistik (Verbundsystem in einem städtischen Teilraum)

Zeithorizont:          kann bereits kurzfristig und auf der Basis der bestehenden Akti­vitäten und Allianzen in Gang gesetzt werden

Umsetzung:            gemeinsam von Transportgewerbe, verladender Wirtschaft, Kammer und Innung, For­schung, Senatsverwaltungen

EU-Relevanz:        allgemein gegeben, großer Bedarf an Weiterentwicklung der lau­fenden Güterverkehrskonzeptionen für städtische Räume (vgl. COST 321)

3     Einrichtung eines Verkehrsforums nach dem Vorbild des Stadtforums

Die Analyse der bisher verfolgten politisch-planerischen Praktiken in Berlin zeigt, dass eine angemessen „zivile“ Ausgestaltung der Mobilitätspolitik noch aussteht. Für Berlin gilt wie für andere Städte auch, dass im Bereich der Stadterneuerung und -planung eine Vielzahl positiver Erfahrungen mit Beteiligungsmodellen, öffentlichen Foren und anderen intermediären Institutionen gemacht wurde. Positive Erfahrungen, die zur weiteren Erprobung in der Verkehrspolitik und -planung geeignet sein könnten, liegen bisher kaum vor. Einzelne Modelle wurden unterschiedlich erfolgreich getestet, die Er­gebnisse sind aber nicht ohne weiteres verallgemeinerbar (Bsp. Verkehrsforum Hei­del­berg). In Berlin ist hier die Erarbeitung des Stadtentwicklungsplans Verkehr zu nen­nen, die Mitte der 1990er Jahre schon einmal für eine Fachöffentlichkeit geöffnet wurde.

Welche Voraussetzungen bringt Berlin für ein dis­kurs- und beteiligungsorientiertes Verfahren mit? Positiv ist die Ausstrahlung des Berliner Stadtforums auf den Dis­kurs zur Stadtentwicklung zu nennen, eher kritisch die oft verhärteten Fronten im Verkehrsdiskurs unter den Ak­teuren. Beides sollte zum Anlass für die Einrichtung eines neuen planerischen Instru­mentariums genommen werden. Es sollte als unabhängiges Beratungs- und Diskus­sionsgremium dazu dienen, die unterschiedlichen Ansprüche an den Stadtraum – hier bezogen auf die räumliche Mobilität und ihre positiven wie negativen Folgen – aus der Sicht verschiedener Interessen zu artikulieren, Konsense und vor allem auch Dis­sense zu markieren und auf dieser Basis tragfähige Lösungen ausfindig zu machen. Dabei muss auch der für jede Konsensfindung zu zahlende „Preis“ benannt werden, d.h. dass bei konkreten Entscheidungen Transparenz in Bezug auf Vor- und Nach­teile, Begünstigte und weniger Begünstigte, spezifische Nutzen und Kosten herge­stellt wird.

 

Aufgabenstellung:    Einrichtung eines Verkehrsforums unter Beteiligung von „Ex­perten“ (Verbände, Initiativen), sachkundigen VertreterInnen der KundInnen und von Politik, Verwaltung, Verkehrsunternehmen. Ziel: Austausch und Verständigung über Strategieentwicklung, Umsetzungspla­nung und Kon­flikt­fragen

bisher. Beispiele:     unterschiedlichste Modelle und Verfahren (kom­mu­nal: lokale Foren und Arbeitskreise, national: dänischer Verkehrsrat als beratendes Gremium des Verkehrsministeri­ums)

Startprojekt:           als Pilotmaßnahme Verständigung über zentrale Dissense und Konsense mit Blick auf anzustrebende kurz- und mittelfristige Ziele der Verkehrspolitik

Zeithorizont:          sofort

Umsetzung:            zivilgesellschaftliche Akteure (Vertreter von Unternehmen und Haus­halten, organisierte Gruppen), Senatsverwaltung(en); Initi­ierung und Federführung durch neutrale/n „Ombudsmann/-frau“

4     Bessere Erreichbarkeit Berlins in den großräumigen Netzen

Eine wichtige Aufgabe zur Sicherstellung von Mobilitätsbedürfnissen und zur zu­kunfts­fähigen Gestaltung des Verkehrs stellt sich aus Sicht der BerlinStudie zum ei­nen auf großräumiger Ebene. Eine „offene“ Stadt, eine Metropolregion des Wissens und des Austauschs, der kulturellen Beziehungen und zivilgesellschaft­licher Verkehrsformen ist auf Mobilität (Beweglichkeit) und Erreichbarkeit an­ge­wiesen. Seit der deutschen Vereinigung, der Öffnung der mittelosteuropäischen Län­der und der europäischen Integration gehört die Verbindung der einzelnen Teilre­gionen zu einer der Hauptaufgaben der Politik. Berlin könnte, ver­kehrlich betrachtet, in die Funktion eines „Ostbahnhofs Europas“ hineinwachsen (Karl Schlögel). Standortentscheidungen (Bau des Zentralbahnhofs, Ausbau des Flughafens Berlin-Schö­nefeld) sind in diese Richtung getroffen wor­den. Unklar bleibt aber, ob das Gateway-Konzept dem Standort Berlin überhaupt angemessen ist. Zugleich wird der Ausbau der Verkehrsnetze wegen seiner ökologischen und verkehrlichen Folgen kritisiert. Auch der Bau des Flughafens Berlin-Brandenburg International – gemessen am Drei-Standorte-Konzept gut begründbar – birgt bezüglich der ökologischen Nachhaltigkeit erhebliche Konflikte.

Damit verbindet sich ein strukturelles Dilemma: Eine wettbewerbsfähige und sozial wie ökologisch lebensfähige Metropolregion wird auf räumlicher Mobilität „gebaut“ sein, sie wird sich den Anforderungen nach Beweglichkeit, Bewe­gung und Fernerreichbarkeit nicht verschließen können, will sie nicht zugleich ökonomische Entwicklungschancen einschränken. Sie wird diese Mobilität jedoch steuern und begrenzen müssen, will sie ihre Lebens- und Standortqualitäten nicht der Eigendynamik des Ver­kehrswachstums unterordnen. Sonst öffnet sie sich der verhängnisvollen Steige­rungs­logik „...mehr Verkehr schafft die Bedingungen für mehr Verkehr...“.

Zur Handhabung und Austragung dieses Grundkonflikts gibt es noch keine einheitli­chen Rezepte; insofern ist dieser „Maßnahmenbereich“ hier nur vorläufig ausformu­liert. Zwei Konsequenzen erscheinen jedoch absehbar: Zum einen sollte eine Mög­lichkeit geschaffen werden, den Grundkonflikt zwischen den ökonomischen Anforde­rungen und den sozialen und ökologischen Problemen des Fernverkehrs exempla­risch auszutragen. Der Weg Berlins in die großräumige Integration bedarf einer insti­tutionalisierten Struktur zur kritischen Diskussion und Austragung dieser Konflikte. Dies wäre eine mögliche erste Aufgabe für das Verkehrsforum. In diesem Prozess wäre zu klären, welchen (gesellschaftli­chen, ökologischen) „Preis“ die Region für eine gute Anbindung an die internationalen Luftverkehrsnetze zu entrichten bereit ist, oder aber auf welcher Basis eine „Brückenfunktion“ Berlins nach Osteuropa solche ökonomischen und kulturellen Nutzen er­bringt, mit denen andererseits bestehende Nachteile einer über­wie­gen­den Transitfunktion kompensiert werden. Zweitens sollte die Wiederherstellung der (internationalen) Fernerreichbarkeit Berlins mit Priorität auf solchen Gebieten erfolgen, für die die Stadt eine historische Kompe­tenz mitbringt. Dazu zählt in besonderer Weise das Eisenbahnnetz. Dieser Ansatz richtet sich räumlich vor allem auf die auch in der BerlinStudie betonte Funktion Berlins als Brücke nach Ost­europa.

 

Aufgabenstellung:    Entwicklung einer modernen Fernverkehrskonzeption für die Me­tropolregion Berlin

Startprojekt:           Schaffung durchgängiger Eisenbahnverbindun­gen im Personen- und Güterverkehr mit den mittelosteuropäi­schen Ländern; Realisierung des Single-Airport-Konzeptes BBI

Zeithorizont:          fünf bis zehn Jahre

Umsetzung:            Verkehrswirtschaft (Eisenbahnunternehmen, Luftverkehrsbe­trie­be, Reisebüros, Expressdienste / Spediteure / Verlader); Po­li­tik und Planungsträger

5     Integration von Stadtentwicklungs- und Verkehrsplanung im Senat von Berlin

Die Verwaltungszuständigkeiten für die Bereiche Stadtent­wicklung und Bauen/Verkehr sollten zusammengelegt und dies als Ausgangspunkt zur Entwicklung einer integrierten Politikstrategie genutzt werden. In der Vergangenheit hat sich die getrennte Organisation von Stadtentwicklungs- und Verkehrsverwaltung in Berlin als Hindernis für eine konsistente Strategieentwicklung und -umsetzung erwiesen. Ob­wohl die Zielkataloge der Beteiligten bezüglich einer inte­grierten Planungsstrategie viele Schnittmengen aufweisen, haben erhebliche Zielkonflikte die Entwicklung einer gemeinsamen Politik bisher verhindert.

Die Straffung der politisch-administrativen Organisationsstrukturen garantiert noch nicht von sich aus eine höhere Konsens- und Treffsicherheit der politischen Entschei­dungen. Dazu erlauben bisherige Erfahrungen aus Brandenburg oder Nordrhein-Westfalen (Ministerien für Stadtentwicklung, Woh­nen, Verkehr) sowie seit 1998 auch im Bund (BM Verkehr, Bau- und Wohnungswesen) sehr verschiedene Urteile, von beispielhaft bis eher konventionell. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die organisatorische Integra­tion von Stadtentwicklung und Verkehr die Chancen für eine zukunftsfähige Verkehrspolitik zumindest erhöht.

 

Aufgabenstellung:    Aufbau einer integrierten Planungsstrategie für Stadtentwicklung und Verkehr in der neuen Berliner Senatsverwaltung

Termin:                 sofort

6     Wirtschaftsräumliche Integration der Region Berlin-Brandenburg

Ein Beitrag zur Reduzierung oder Vermeidung des Güterverkehrs könnte als Nebenfolge einer stärkeren wirtschaftsräumlichen Integration der Region Berlin-Bran­denburg geleistet werden. Regionale Verflechtungen, die an die Stelle der histo­risch bedingten ökonomischen Insellage Berlins treten, sparen weite Wege und si­chern damit, wenn nicht eine ausgewogene Raumentwicklung, so doch ausglei­chen­de Tendenzen und können somit zu einer Begrenzung des Verkehrswachstums bei­tragen. Die hohen Anteile des Fernverkehrs am Gesamtverkehr, insbe­sondere im Güterverkehr, sind ökologisch und ökonomi­sch gesehen problematisch. Gleichzeitig liegen in der groß­räumigen Arbeitsteilung wichtige Ursachen des Güterverkehrswachstums. Eine langfristige, strukturelle Problemlösung muss an diesen Verkehrsursachen ansetzen.

Ein Ansatzpunkt hierfür sind stärker regional geschlossene Kreisläufe. Sie sollten langfristig überall dort, wo dies sinnvoll machbar ist, großräumige Transportketten ersetzen. Eine Verkürzung der Transportketten kann durch den Aufbau und die För­derung lokaler und regionaler Wertschöpfungsketten und Produktionsmilieus erzielt und – etwa durch Zulieferbörsen – initiiert werden. Sie sollte durch eine gezielte Ge­werbepolitik ergänzt werden. Beispiele hierfür geben die funktionale Schwerpunktset­zung der Berliner Gewerbestandortplanung oder die Berliner Zulieferbörse; sie zeigen auch, dass solche Maßnahmen aus anderen als verkehrlichen Motiven sinnvoll sein können. Neben dem produzierenden Gewerbe und der Bauwirtschaft eignet sich vermutlich auch die Nahrungsmittelwirtschaft für diesen Ansatz.

 

Aufgabenstellung:    Verkehrsvermeidung bzw. -reduzierung durch regionale Wirt­schaftskreisläufe in ausgewählten Branchen/Produktgruppen

bisher. Beispiele:     vorwiegend ländliche Regionen oder spezifi­sche Stadt-/Umland-Kooperationen

Startprojekt:           Initiierung mit ausgewählten, für einen Verbund ge­eigneten Produktgruppen/-linien oder Branchen, z.B. Bau­stof­fe oder ausgewählte Lebensmittel, in Berlin und Brandenburg

Zeithorizont:          mittelfristig

Umsetzung:            sollte analog zu ähnlichen Ansätzen (Zulieferbörse) als Koope­rationsprojekt mit Unternehmen, Körperschaften (Kammern), ggf. Senatsverwaltungen und Ministerien organisiert werden

7.  Die Studie und ihre Empfehlungen im Rückblick (Stand 2002)

Seit Fertigstellung und Veröffentlichung der Berlin-Studie haben sich die für dieses Thema relevanten politisch-administrativen Strukturen in Berlin erheblich verändert. Zu nennen sind insbesondere die Einrichtung der neuen Senatsverwaltung für Stadtentwicklung im Jahr 1999, die zur schon lange geforderten Integration von Bau- und Verkehrsverwaltung geführt hat. Damit wurden wichtige Voraussetzungen für eine integrierte Betrachtung von Stadt- und Verkehrsentwicklung geschaffen. Diese Verwaltungsorganisation wurde auch nach dem politischen Wechsel von CDU/SPD zu PDS/SPD im Jahr 2001 beibehalten.

Der wichtigste Baustein zur Beurteilung der Politik- und Planungspraxis im Kontext der Berlin-Studie ist der Stadtentwicklungsplan Verkehr (StEP Verkehr), dessen Erarbeitung 1999 wieder aufgenommen wurde. Dieses Planwerk hat erstens einen umfassenden, Ressorts und Verkehrsträger integrierenden Ansatz. Zweitens zielt der StEP auf Beteiligung, sowohl bezüglich der Zuarbeit aus der Wissenschaft (über einen wissenschaftlichen Beirat) als auch durch die Einrichtung eines Runden Tischs, an dem relevante Interessengruppen vertreten sind (Hesse 2001). Gemeinsam mit Gruppen und Verbänden werden konsensfähige Lösungen gesucht. Inhaltlich strebt der StEP Verkehr einen Ausgleich zwischen Funktionsfähigkeit (Erreichbarkeit sichern), Stadtverträglichkeit (Belastungen reduzieren) und Finanzierbarkeit (Ausgabevolumen reduzieren und konzentrieren) an.

Welchen Umfang die noch zu beschließenden Maßnahmen des StEP Verkehr haben werden und welche konkreten Wirkungen davon ausgehen können, ist noch offen und wird sich erst im Laufe des Jahres 2002 bzw. später zeigen. Eine Bewertung des Planwerks steht insofern unter dem Vorbehalt dieser konkreten Resultate. Mit dem StEP Verkehr wurden aber schon zentrale Vorschläge der Studie aufgenommen: die Integration der Verwaltungsebenen, die Umsetzung einer integrierten Planungsstrategie sowie die Einrichtung eines Verkehrsforums, hier durch den Runden Tisch. Vorschläge der Studie, die in der Stadtpolitik bisher nicht explizit thematisiert wurden, sind diejenigen bezogen auf den Fernverkehr, den Flughafen BBI, die Flexibilisierung des öffentlichen Verkehrs sowie die Umsetzung von weiteren Maßnahmen im Bereich Güter- und Wirtschaftsverkehr. Zum Teil werden sie im Zuge der laufenden Angebotsstrategien der Verkehrsunternehmen (vgl. die Einführung von Kiezbussen durch die BVG; das Auftreten von Wettbewerbern der Bahn AG) oder in der Implementation von Planungsverfahren (Bürgeranhörungen zum Flughafen BBI) implizit aufgeworfen.

Eine Gesamtbewertung der Vorschläge der Studie im Kontext einer strategischen Stadt- und Mobilitätspolitik steht noch aus. Erst die Umsetzung konkreter Schritte wird diesbezüglich Spreu von Weizen trennen. Bereits in der anstehenden Konkretisierung des StEP Verkehr zeigt sich das Problem, dass die Realisierung von Maßnahmen ganz wesentlich durch zivilgesellschaftliche Akteure erfolgen muss. Hier ist eine gewisse Berliner Tradition von Nachteil, die Politik überwiegend dem öffentlichen Sektor überlässt. Vor allem mit Blick auf die Frage, wie man Mobilität und Verkehr zum gesamt-städtischen Thema macht, wie man die Anliegen einer anderen als auto-mobilen Bewegung in die Stadtgesellschaft transportiert und welches „zivile“ Bündnispartner für diesen Kurs sein können, stehen überzeugende Antworten noch aus. Diese Frage könnte aber wichtiger werden als die nach neuen Verkehrswegen und ‑techniken. Gleiches gilt für das Problem, dass jeder gute Plan vor Ort wirkungslos bleiben kann, wird er nicht durch passende Rahmenbedingungen auf EU- und Bundesebene flankiert. Auch hier besteht großer Nachholbedarf.

Literatur

Arbeitsgruppe Berlin-Studie (Bearb.)/Der Regierende Bürgermeister (Hg.) (2001): Zivile Wege in das 21. Jahrhundert. Berlin: Regioverlag.

Beck, U., Bonß, W. (Hg.) (2001): Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Brake, K. (2001): Strategische Entwicklungskonzepte für Großstädte – mehr als eine Renaissance der „Stadtentwicklungspläne“. In: AfK II/2000, 277-297.

Dybe, G., Kujath, J. (2000): Hoffnungsträger Wirtschaftscluster. Unternehmensnetzwerke und regionale Innovationssysteme: Das Beispiel der deutschen Schienenfahrzeugindustrie. Berlin: Edition Sigma.

Hesse, M. (2001): Jenseits der Programmierbarkeit. Der Stadtentwicklungsplan Verkehr aus wissenschaftlicher Sicht. In: Foyer 1/01, Februar 2001, S. 14-15.

Kunst, F., Blümel, H. (1999): Berlin in Bewegung. Neun Ausblicke auf eine stadttaugliche Mobilitätspolitik. In: Stadforum Heft 34, Februar 1999, S. 14-33.

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (2000): Stadt und Verkehr. Planungsansätze zur Integration 1995-1999. Berlin.