Arne Koerdt

Autofreies Wohnen – Nischenprodukt oder Leitbild

Vom autofreien Wohngebiet zur autofreien Stadt?

1.  Autofreies Wohnen – eine Lösungsstrategie?

Die massenhafte Nutzung von Autos hat die Städte in den letzten Jahrzehnten ganz wesentlich geprägt. Das Auto ist praktisch überall präsent. Akustische und visuell. Fast jeder Winkel der Stadt ist mit dem Pkw erreichbar. Die Versorgung der Stadt und die Mobilität der meisten Bewohner sind auf das Auto ausgerichtet.

Doch das Auto ist kein stadtverträgliches Verkehrsmittel. Dem Flächenbedarf des zunehmenden Autoverkehrs wurden insbesondere in den 60er und 70er Jahren große Teile der Städte geopfert. Die Bewohner leiden unter negativen Begleiterscheinungen wie Lärm, Abgasen und Unfallgefahren. Die Nutzbarkeit des öffentlichen Raums ist oft stark eingeschränkt.

Die mit dem Autoverkehr einher gehenden Beeinträchtigungen der Lebensqualität stoßen in weiten Teilen der Bevölkerung auf Kritik. Sie sind ein wesentlicher Grund für den Umzug vieler Menschen ins Umland. Dort gibt es oftmals keine Alternative zur Nutzung des eigenen Pkws. Die Flucht vor dem Auto im Auto setzt ein. Ein fataler Teufelskreis.

Die Zusammenhänge sind hinlänglich bekannt. Doch bisher mangelt es an Ideen, wie diesem Megatrend begegnet werden kann. Gesucht werden Konzepte, die die Stadt als Wohn- und Arbeitsort wieder attraktiv machen und Anreize zur Nutzung stadtverträglicher Verkehrsträger schaffen. Einer der Konzepte, die als ein möglicher Beitrag zur Lösung dieser Probleme angesehen werden, ist das autofreie Wohnen. Im Folgenden soll hinterfragt werden, inwieweit die Idee des autofreien Wohnens diesem Anspruch gerecht werden kann.

2.  Besser leben – autofrei?

Die Grundidee des autofreien Wohnens ist denkbar einfach. Man fasst Menschen in einem Gebiet zusammen, die dauerhaft ohne (eigenes) Auto leben wollen. Damit entfällt die Notwendigkeit einer Erschließung für den Autoverkehr. Das Innere der Gebiete kann vom Autoverkehr frei gehalten werden. Die Bewohner kommen so in den Genuss einer hohen Wohnqualität: weniger Lärm und Abgase, höhere Verkehrssicherheit, mehr Aufenthaltsqualität, mehr Grün. Die Stadt wird als Wohnstandort wieder Attraktiv und der „Verzicht“ auf ein eigenes Auto wird belohnt.

Geboren ist die Idee aus einem soziologischen Experiment der Universität Bremen heraus. In den Jahren 1990/91 wurden mehrere autobesitzende Familien über vier Wochen mit der Situation der Autolosigkeit konfrontiert. Die meisten Projektteilnehmer schafften nach dem Experiment ihr Auto dauerhaft ab, weil sie während des Untersuchungszeitraumes feststellten, wie gut ihr Leben ohne Auto funktionierte. Die positiven Erfahrungen mit dem Experiment ermunterten die mit dieser Studie befassten Wissenschaftler Burwitz, Koch und Krämer-Badoni in dieser Richtung weiter zu denken. Zu­sammen mit Michael Golz-Richter von der Bremer Senatsverwaltung für Umweltschutz und Stadtentwicklung, entwickelten sie daraufhin die Idee eines autofreien Wohngebietes. Im Jahre 1992 wurde mit den Planungen für das erste Modellprojekt in Bremen-Hollerland begonnen.

3.  Scheitern als Chance?

Das erste Modellprojekt in Bremen-Hollerland begann vielversprechend. Nach einer öffentlichen Vor­stellung meldeten sich innerhalb kürzester Zeit 250 interessierte Haushalte. Bereits wenige Monate später war die Zahl der Interessenten auf 350 Haushalte angewachsen – bei  nur 41 geplanten Wohnungen. Ein Investor bekundete Interesse das Gebiet autofrei zu entwickeln, die Unterstützung von Politik und Verwaltung war gegeben. Im Jahr 1995 sollte mit dem Bau begonnen werden.

Dennoch scheiterte das Projekt am Ende. Nachdem von den Interessenten nur noch vier Käufer und ein paar Mieter übrig blieben, gab der Investor das Projekt autofreies Wohnen im Herbst 1995 auf. Im Juli 1996 wurde der Interessenten-Verein „Autofrei im Hollerland e.V.“ aus dem Vereinsregister gestrichen. Die Kritiker der Idee sahen sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass ein dauerhaft autofreies Leben weder möglich noch erstrebenswert sei. Bremen-Hollerland wurde dankbar als Beweis für das Scheitern der Idee „Autofrei Wohnen“ angenommen.

Doch dieser naheliegende Schluss erwies sich als falsch. Das Projekt ist nicht gescheitert, weil autofreies Wohnen generell nicht vermarktbar ist, sondern weil die Vermarktungsbedingungen dieses speziellen Projektes denkbar ungünstig waren. Alle Mieter und Käufer sollten zur Sicherung der Auto­frei­heit und zur Umgehung der bauordnungsrechtlichen Stellplatzpflicht für sich und alle Rechtsnachfolger und Mitbewohner verbindlich erklären, dauerhaft kein eigenes Auto zu nutzen. Gleichzeitig war die Lage des Gebietes für einen autofreien Lebensstil nur unzureichend geeignet. Das Gebiet lag am Stadtrand und war nur mäßig mit öffentlichen Verkehrsmitteln angebunden (eine Buslinie). Die Nahversorgung mit Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs war nur teilweise gegeben.

Zudem wären die Vorteile des autofreien Wohnens dort kaum zum tragen gekommen. Die durch den Verzicht auf Stellplätze und eine autofreie Erschließung möglichen finanziellen Vorteile wurden durch Vorhalteflächen für den Fall des Scheiterns des Projektes (Havarieszenario) und durch die schwere Bebaubarkeit des Areals überkompensiert. Der Städtebau wies keine Besonderheiten auf, denn auch hier wurde das Scheitern bereits mitgedacht. Der mögliche Qualitätsgewinn wäre ohnehin gering gewesen, da das Gelände am Ende einer Erschließungsstraße liegt und die Belastungen des Pkw-Verkehrs somit auch bei konventioneller Erschließung kein großes Problem darstellen.

Insgesamt entstand aufgrund der oben genannten Faktoren bei den meisten Interessenten der Eindruck, dass die mit der Unterzeichnung einer Autofreierklärung verbundenen Einschränkungen der eigenen Entscheidungsfreiheit in keinem angemessenen Verhältnis zum damit verbundenen Nutzen stehen. Dieser Eindruck wurde durch die Vermarktung des Gebietes sogar noch verstärkt. Auf der Titelseite der Informationsbroschüre prangte ein großes Verkehrsschild „Verbot für Kraftfahrzeuge“. D.h. es wurde v.a. auf den Verbotsaspekt abgestellt, nicht auf die Qualitäten des Gebietes.

In Anbetracht dieser Umstände ist es kaum verwunderlich, dass die Vermarktung des Projektes in einem sehr schwierigen Marktumfeld (zum Zeitpunkt der Vermarktung war in Bremen der gesamte Immobilienmarkt sehr entspannt) zum Scheitern verurteilt war. Auch in autofreien Quartieren ist die Mobilität lediglich ein Aspekt unter vielen. Nur wenn das Gesamtprojekt attraktiv ist, sind die Menschen zu Investitionen in ein derartiges Vorhaben bereit.

Doch im Endeffekt hatte das Ende des Projektes auch sein Gutes. Aus dem Negativbeispiel Bremen-Hollerland konnten die Folgeprojekte lernen. Nachdem man sich vom Schock des frühzeitigen Endes erholt hatte, ging man dazu über, die Fehler des ersten Versuchs konstruktiv zu nutzen. Man wusste nun, an welchen Punkten sich das Schicksal eines solchen Projektes entscheidet und war dadurch besser in der Lage, die Probleme zu umschiffen.

4.  The next Generation

In einer Reihe weiterer Städte waren bereits engagierte Menschen von der Idee des autofreien Wohnens infiziert worden. Sie waren davon überzeugt, dass man es besser machen kann und versuchten dies zu Beweisen – jedoch mit sehr unterschiedlichen Konzepten.

Im Wesentlichen liefen die Konzepte darauf hinaus, die theoretischen Vorteile des autofreien Wohnens auch für die Bewohner praktisch "erfahrbar“ zu machen und die Flexibilität der Konzepte zu erhöhen, um die Tragweite der Autofreientscheidung zu reduzieren. Da beide Ziele jedoch nur begrenzt miteinander vereinbar sind, entwickelten sich in der Folgezeit unter dem Begriff des autofreien Wohnens unterschiedliche Konzepte mit einem sehr unterschiedlichen Grad der Autofreiheit. Hier einige Beispiele:

4.1  Hamburg Saarlandstraße

In Hamburg Saarlandstraße wurde an einem „harten“ Autofreikonzept festgehalten in dem sich die Bauherren und Vermieter schriftlich zur Autofreiheit verpflichten müssen. Diese Verpflichtungen dienen nicht nur der Sicherung des autofreien Charakters sondern waren zur rechtlichen Absicherung des Projektes erforderlich.

In Hamburg besteht wie in allen Bundesländern (außer Berlin) eine bauordnungsrechtliche Stellplatzpflicht. Für nicht errichtete Stellplätze müssen Ablösebeiträge gezahlt werden. Nur wenn der autofreie Charakter des Gebietes rechtlich hinreichend gesichert ist, ist es nach herrschender Rechtsauffassung zulässig, die Pflicht zur Zahlung von Ablösebeiträgen aussetzen und auf Vorhalteflächen für das Havarieszenario zu verzichten.

Durch das Instrument der Autofreierklärung war es – anders als beim Projekt Bremen Hollerland –  möglich, durch die Reduktion der Stellplatzzahlen erhebliche Kosten zu sparen. Gebaut wurden lediglich 0,15 Stellplätze für Besucher, Behinderte und Car-Sharing. Eine ebenerdige Realisierung der übrigen Stellplätze wäre wegen des Zuschnittes des Grundstückes kaum in Frage gekommen. Jeder Tiefgaragenstellplatz hätte aufgrund der Nähe zu mehreren Kanälen und des damit verbundenen hohen Grundwasserstandes am konkreten Standort ca. 15.000 bis 20.000 € gekostet.

Auch beim Bau der Wohnungen wurde streng auf Kostenminimierung geachtet. Zusätzliche Einsparungen wurden – zumindest in den Teilbereichen die durch Eigentümergemeinschaften oder Genossenschaften errichtet wurden – durch den Verzicht auf einen konventionellen Investor realisiert. Denn dadurch entfiel die sonst übliche doppelte Grundsteuer und die Gewinnmarge der Investoren. Darüber hinaus wurden durch kostensparendes Bauen auch die reinen Baukosten gering gehalten.

Insgesamt ist es so gelungen, Personenkreisen an einem attraktiven innerstadtnahen Standort Wohneigentum zu ermöglichen, denen die Finanzierung eines vergleichbaren Objekt ansonsten nicht möglich gewesen wäre. Diese profitieren zudem von der hohen (autofreien) Wohnqualität und den engen Nachbarschaften, die durch die starke Identifikation mit dem Gebiet insbesondere im Bereich der Eigentümergemeinschaft und der Genossenschaft entstanden sind.

4.2 Wien Florisdorf

In Wien wurde eine Mischform gewählt. Die Bewohner des Gebietes müssen sich zwar zur Autofreiheit verpflichten. Wenn aufgrund gravierender Änderungen in den Lebensumständen eines Bewohners die Mobilität ohne eigenes Auto nicht mehr in ausreichendem Maße gesichert werden kann, wird jedoch die Anschaffung eines eigenen Autos genehmigt.

Der Bewohner muss dann allerdings einen dauerhaften Stellplatz in zumutbarer Entfernung zum Quartier nachweisen oder sich diesen vom Bauherren bereitstellen lassen. Dadurch wird die Autoverzichtsklausel zwar deutlich abgeschwächt. Der Aspekt der Kostengerechtigkeit (verursachergerechte Anlastung der Kosten) bleibt jedoch gewährt.

In anderer Hinsicht wurde in Wien mit dem Kostenaspekt jedoch grundsätzlich anders umgegangen als beispielsweise in Hamburg Saarlandstraße. In Wien wurden die sich durch die Reduktion des Stellplatzschlüssels ergebenden finanziellen Einsparungen in Höhe von 3,5 Mio. DM nicht in Kostenreduzierungen sondern in soziale und ökologische Maßnahmen investiert.

Dort sind ohne Mehrkosten gegenüber konventionellen Bauten für eine Wohnanlage mit 245 Wohneinheiten u.a. ein Fitneßraum, Gemeinschaftsräume, eine Sauna, ein Waschsalon, ein Jugend- und Kinderhaus, eine Fahrradwerkstatt sowie in eine qualitätsvolle Freiraumgestaltung geplant worden. Im ökologischen Bereich wurden die Kosteneinsparungen u.a. in Solaranlagen, Schmutzwasserwärmegewinnung, Grauwassernutzung, verbrauchsabhängige Nebenkostenabrechnungen, ökologische Baumaterialien und Dachbegrünungsmaßnahmen investiert.

Aufgrund des Erfolges mit diesem Projekt wird derzeit ein zweites autofreies Quartier in Wien Meidling geplant.

Abb.: Straßenansicht in Wien-Floridsdorf

4.3 Freiburg Vauban

In Freiburg Vauban wurde ein sehr flexibles System entwickelt, das sich v.a. durch die Kostengerechtigkeit und die Aufwertung des Außenraumes auszeichnet. Die Bewohner des Gebietes können wählen, ob sie ein eigenes Auto besitzen wollen oder nicht. Wer ein Auto hat, muss einen gebührenpflichtigen Stellplatz in einem Parkhaus am Randes des Gebietes erwerben sowie monatliche Betriebskosten entrichten. Der Stellplatz kostet ca. 17.500 €.

Autofreie Haushalte müssen hingegen nur einen einmaligen Betrag in Höhe von ca. 3.500 € für den Erwerb einer Vorhaltefläche bezahlen, auf der bei Bedarf nachträglich Stellplätze errichtet werden können. Sie haben die Möglichkeit sich nachträglich zum Autobesitz zu entschließen, müssen dann allerdings zusätzlich zu den Kosten der Vorhaltefläche einen Betrag in Höhe von 15.000 € für einen Stellplatz zahlen.

Innerhalb des Gebiets dürfen die Straßen in Schrittgeschwindigkeit mit Autos befahren werden. Das Be- und Entladen am Straßenrand ist erlaubt. Das Parken von Autos im Straßenraum und auf privaten Grundstücken ist jedoch untersagt.

Das fortschrittliche Mobilitätskonzept ist eingebettet in ein Gesamtkonzept, dass hinsichtlich Städtebau und Energiekonzept hohen Ansprüchen gerecht wird. Die Grundstücke wurden kleinteilig parzelliert und an Baugruppen und kleine Genossenschaften abgegeben. Dadurch ist eine abwechslungsreiche Architektur entstanden. Das Gebiet ist stark durchgrünt. Niedrigenergiestandard ist Voraussetzung, Passivhausbauweise wird gefördert.

Die ersten Bauabschnitte des insgesamt 2.000 Wohnungen umfassenden Projektes sind fertiggestellt. Weitere befinden sich im Bau. Das Projekt wird sehr gut angenommen. Die Nachfrage nach Wohnungen überstiegt das Angebot deutlich. Etwas die Hälfte der Haushalte entscheiden sich für die autofreie Variante. Die autofreien Spielregeln werden eingehalten. Der öffentliche Raum wird insbesondere von spielenden Kindern intensiv genutzt. Die Bebauung ist deutlich stärker zum Straßenraum hin geöffnet als in konventionellen Gebieten.

Das Modell ist aufgrund seiner Flexibilität als Standardlösung im Neubau geeignet. Durch die weiten Wege zum Auto und die Kostengerechtigkeit beim ruhenden Verkehr schafft das Konzept Anreize zur Reduzierung der Pkw-Nutzung und zur Abschaffung eines eigenen Autos. Durch die Befahrbarkeit des Innenbereiches konnte jedoch kein autofreier Städtebau entwickelt werden. Belastungen und Gefährdungen durch den Autoverkehr wurden zwar deutlich reduziert, sind jedoch nach wie vor gegeben.

Abb.: Ansicht des öffentlichen Raums in Freiburg-Vauban

Abb.: Ansicht des öffentlichen Raums in Freiburg-Vauban

5.  Potentiale und begrenzende Faktoren

Insgesamt gibt es ein großes theoretisches Potential für autofreie Gebiete. 28% aller Haushalte in Deutschland leben ohne eigenes Auto. Rechnet man die Personen hinzu, die zwar in autobesitzenden Haushalten leben, aber dennoch keine Möglichkeit zur Nutzung eines eigenen Autos haben (etwa weil sie keinen Führerschein besitzen), wächst die Zahl der Personen ohne Pkw-Verfügbarkeit auf 22,8 Millionen (38 % der erwachsenen Bevölkerung). In Großstädten liegt dieser Wert noch höher. In Berlin sind 46 % aller Haushalte autofrei.

Trotz dieses großen theoretischen Potentials und den in ersten Modellprojekten erlebbaren Vorteilen  hat das Konzept des autofreien Wohnens sich bisher nicht zu einer Massenbewegung entwickeln können. Es ist zwar absehbar, dass bald die meisten Großstädte in Deutschland ein autofreies Quartier haben werden. In größeren Städten werden vermutlich sogar mehrere Projekte realisiert. Doch nach wie vor handelt es sich lediglich um einzelne, kleinere Modellprojekte.

Dies liegt sicherlich auch daran, dass nur ein kleinerer Teil der autofreien Haushalte überhaupt als Bewohner in Frage kommt. Viele autofreie Haushalte leben altersbedingt autofrei. Diese Gruppe zieht nur höchst selten in Neubaugebiete um. Andere sind aus finanziellen Gründen erzwungenermaßen autofrei und halten es nicht für erstrebenswert, in ein autofreies Quartier zu ziehen. Im Vergleich dazu ist die Zahl der autobesitzenden Haushalte, die sich aufgrund der möglichen Vorteile autofreier Quartiere dazu entschließen, ihr Auto abzuschaffen, vergleichsweise gering.

Auch wenn die Nachfrage nach komplett autofreien Gebieten begrenzt ist – bisher haben alle autofreien Projekte die ein attraktives Gesamtangebot schaffen haben, eine für das jeweilige Marktumfeld überdurchschnittliche Nachfrage zu verzeichnen gehabt. Die Grenze der Nachfrage ist somit noch lange nicht erreicht. Die Gründe für die geringe Dynamik der bisherigen Entwicklung liegen daher derzeit woanders.

Ein Grundproblem für autofreie Planungen besteht darin, das fast alle bisherigen Konzepte sich auf den Neubau konzentrieren. Das Neubauvolumen ist jedoch im Vergleich zum Bestand gering. Innerhalb des Neubaus kommt wiederum nur ein kleiner Teil der Flächen für eine autofreie Bebauung in Frage. Die meisten Gebiete genügen hinsichtlich der Faktoren Mindestgröße, städträumliche Lage und ÖPNV-Anbindung nicht den überdurchschnittlich Standortanforderungen, die an autofreie Gebiete zu stellen sind. Um so wichtiger erscheint es, die jetzt noch nicht bebauten geeigneten Standorte für entsprechende Konzepte vorzusehen oder zumindest freizuhalten.

Ein weiteres Realisierungshindernis für autofreie Projekte ist der nach wie vor hohe planerische Aufwand. Ein Zeitraum von acht Jahren zwischen ersten Überlegungen und Realisierung ist nichts ungewöhnliches. Auf der Ebene der Politik und der Verwaltung muß oft mit massiven Widerständen und ideologischen Vorbehalten gerechnet werden. Der Aufwand für die Koordination der Bewohner ist aufgrund der oft angewendeten Bauform der Baugruppen und des hohen Beratungsbedarfs überdurchschnittlich groß. Hinzu kommt der oft unzureichende Kenntnisstand. Die Verwaltung muss sich erst in eine für sie neue Thematik einarbeiten. In vielen Punkten gibt es trotz erfolgreicher Modellprojekte noch Forschungsbedarf.

6.  Resümee

Das was unter dem Begriff „autofrei“ angeboten wird, ist höchst unterschiedlich. Es reicht von sogenannten „autoarmen“ Gebiete in denen lediglich Maßnahmen zur Reduktion der Stellplatzzahl und der Autonutzung ergriffen werden, bis zu Gebieten, in denen sich die Bewohner vertraglich zur Autofreiheit verpflichten müssen.

Durch die aus rechtlichen und praktischen Gründen zwingend erforderlichen Ausnahmeregelungen in Härtefällen, durch in allen Gebieten vorhandene Angebote für Car-Sharing, Besucher und Mobilitätsbehinderte sowie durch die unvermeidliche Befahrbarkeit für Möbelwagen und Rettungsfahrzeuge ist streng genommen keines der Gebiete vollkommen autofrei.

Es zeichnet sich ab, dass die unterschiedlichen Konzepte, die sich unter dem Begriff der „Autofreiheit“ entwickelt haben, keine wirkliche Konkurrenz untereinander darstellen sondern sich im Gegenteil sehr gut ergänzen. Die Konzepte sprechen unterschiedliche Zielgruppen an und sind auf die unterschiedlichen Bedingungen unterschiedlicher Standorte (Stadtrand/Innenstadt) ausgerichtet. Sie werden daher auch zukünftig nebeneinander bestehen bleiben.

Was bisher fehlt, ist ein Gebiet, dass die unterschiedlichen potentiellen Vorteile wie Kostenersparnis und ökologische Qualität miteinander verbindet und dabei eine hohe Flexibilität für die Bewohner wahrt. Dazu ist neben einem geeigneten Konzept eine gewisse Mindestgröße erforderlich, um unterschiedliche Ziele (Kostenersparnis/hoher ökologischer Standard) nebeneinander verwirklichen zu können. Das derzeit in Planung befindliche Projekt in der Chausseestraße in Berlin-Mitte (autofreies Stadtviertel an der Panke) hat aufgrund seiner Größe und seiner Konzeption die Chance, erstmals alle potentiellen Vorteile in einem Gebiet miteinander zu verbinden.

Insgesamt wird hartes autofreies Wohnen nur ein Nischenprodukt bleiben, dass lediglich eine geringen direkten Beitrag zur Lösung städtischer Verkehrsprobleme leisten kann. Die meisten autofreien Projekte haben nur eine Größe von 200 Haushalten. Der überwiegende Teil der Bewohner hat bereits vorher kein eigenes Auto besessen. Wegen des geringen Mengeneffektes kann autofreies Wohnen daher nur eine Maßnahme unter vielen sein, wenn man die Probleme des städtischen Verkehrs in den Griff bekommen will.

Auch wenn das autofreie Wohnen an sich nur einen begrenzten Umfang am Neubauvolumen einnehmen wird, bestimmte Grundprinzipien die – nicht nur aber in starkem Maße – in autofreien Konzepten erarbeitet wurden, könnten zum Standard der ökologischen Siedlungsentwicklung werden. Hierzu zählen insbesondere die Kostengerechtigkeit durch die verursachergerechte Anrechnung der Stellplatzkosten wie sie in Freiburg Vauban praktiziert wird.

Auch andere positive Merkmale autofreier Quartiere, die nicht zwingend mit der Autofreiheit verbunden sind und auch nicht im Rahmen der Autofreiprojekte entwickelt wurden, wie Kleinteiligkeit und Niedrigenergiebauweise, erhalten durch die Anwendung in positiven und in der Fachöffentlichkeit stark beachteten autofreien oder autoarmen Modellprojekten wie Tübingen Südstadt oder Freiburg Vauban womöglich einen zusätzlichen Schub.

Die wesentlichen Auswirkungen des autofreien Wohnens allerdings liegen eher in einem anderen Bereich. Autofreies Wohnen macht die große Gruppe der autofrei lebenden Menschen sichtbar und bringt sie ins öffentliche Bewusstsein. Gelungene Modellstadtteile zeigen das „Autoverzicht“ kein Verzicht an Lebensqualität sein muss und sogar erstrebenswert sein kann. Der Unterschied zwischen Autofreien und konventionellen Gebieten macht Probleme des massenhaften Autoverkehrs sichtbar und trägt so zu einer Reduktion der Akzeptanz dieser Phänomene bei.

Wünschenswert wäre, dass die Wohnqualität, die autofreie Projekte entfalten können, die Sensibilität für die negativen Begleiterscheinungen des städtischen Verkehrs erhöhen und somit im Zusammenwirken mit anderen Faktoren langfristig zu einer Veränderung des Mobilitätsverständnisses beitragen. Die teils heftigen Reaktionen und erbitterten Widerstände sowie die geringe Bekanntheit der Modellprojekte über den begrenzten Kreis der Fachöffentlichkeit hinaus, zeigen jedoch, dass es bis dahin noch ein langer Weg ist.

Solange selbst Fachleute behaupten so was gibt es nirgends und so etwas funktioniere nicht, werden die mit der Idee des autofreien Wohnens verbundenen Chancen für eine nachhaltige Stadtentwicklung vertan. Und solange wird die Bemerkung „man wohne ja in der Stadt und da sei es nun mal laut“ eine beliebte Floskel in der Argumentation gegenüber lärmgeplagten Anwohnern bleiben.

Vielleicht wird sich dies erst ändern, wenn die derzeit noch sehr vorsichtigen Versuche zu autofreien Konzepten im Bestand greifen und damit zwangsläufig breitere Schichten der Bevölkerung zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Thematik gezwungen werden.