Ursula Flecken

Städtebauliche Entwürfe auf dem Weg in die Nachmoderne[1]

Wie kommt man auf die Idee, sich mit städtebaulichen Entwürfen zu befassen, die mehr als 30 Jahre alt sind? Mich haben sie interessiert, weil viele von ihnen schon damals Elemente enthielten, die heute selbstverständlich beim Entwerfen sind, über die man heute normalerweise gar nicht mehr nachdenkt. Seinerzeit aber haben sich die Entwerferinnen und Entwerfer sehr genaue Gedanken gemacht, wenn sie etwas zeichneten, das nicht in das städtebauliche Denk- und Wertesystem der Zeit hineinpasste. Aus Andersdenken entsteht oft Neues, Innovatives. Mein Ziel war es, herauszufinden, welche Entwurfselemente sich zuerst änderten, was sich da genau wie entwickelt hat und welche Rolle dabei der zeitliche Kontext spielte. Ich verfolgte mit dieser Analyse auch die Frage, was für das städtebauliche Denken und Handeln heute aus dieser Zeit „gelernt“ werden kann.

Die 1960er und 1970er Jahre waren in Westdeutschland eine schillernde Zeit. Das Lebensgefühl wird durch eine starke Aufbruchstimmung geprägt. Die außerparlamentarische Opposition erwacht und kommt zu seiner Blüte, gesellschaftliche Bewegungen wie die Bürgerinitiativen-, Frauen- und Friedensbewegung entstehen. Die ersten Menschen landen auf dem Mond. Der gesellschaftliche und technische Fortschritt scheint keine Grenzen zu kennen.

Auch im Städtebau vollzieht sich in dieser Zeit ein tiefgreifender Wandel, die herrschenden Paradigmen und die Ergebnisse des praktischen Städtebaus der vorangegangenen Jahre werden massiv kritisiert, auch stark in der Fachliteratur, die von Autorinnen und Autoren wie Jane Jacobs, Kevin Lynch, Alexander Mitscherlich, Christopher Alexander und Aldo Rossi geprägt wird. Ihre Kritik bezieht sich besonders auf die neu entstandenen Wohnsiedlungen an den Stadträndern, die langweilig und ohne Leben erscheinen, sowie auf die Innenstädte, die durch den Verlust an Wohnraum und kultureller Nutzung zunehmend veröden und zudem immer stärker vom motorisierten Verkehr belastet werden. Die Analyse der Schriften zeigt, dass sich ihre Ablehnung implizit oder auch explizit auf die Prizipien des Städtebaus der „Moderne“ bezieht, auf den „orthodoxen Städtebau“ - wie es Jane Jacobs ausdrückt. Die Hauptthese der Untersuchung war, dass in der Zeit zwischen 1960 und 1975 der Umbruch von der Moderne zur Nachmoderne in der Fachliteratur und in städtebaulichen Entwürfen vorbereitet wurde, um sich danach im praktischen Städtebau durchzusetzen.

1.  Moderne und Nachmoderne

Ohne Zweifel kann man von einem Unterschied zwischen der städtebaulichen Moderne und der städtebaulichen Nachmoderne beziehungsweise Postmoderne[2] sprechen. Die Frage nach einer inhaltlichen Präzisierung jedoch war bislang nicht beantwortet. Hierzu wollte ich mit meiner Arbeit beitragen. Eine Inhaltsbestimmung der Begriffe städtebauliche Moderne und Nachmoderne war auch Voraussetzung, um zu einer Charakterisierung des unterstellten Umbruchs zu gelangen.

Die Begriffe Moderne und Nachmoderne werden hier, bevor ich zu einer Charakterisierung der Begriffe im Städtebau gelange, von mir folgendermaßen aufgefasst. Ich verstehe den Begriff der Moderne in der Tradition der „Neuzeit“, eines im 17. Jahrhundert entwickelten Programms. Die Neuzeit berief sich auf die so genannte mathesis universalis und entwickelte einen neuen universalen Wissenschaftsansatz, nämlich das von Descartes und Leibniz entwickelte Ideal einer Einheitswissenschaft nach dem Vorbild der Mathematik. Sie sollte ermöglichen, aus genau definierten, grundlegenden Vernunftwahrheiten folgerichtige Erkenntnisse zu ziehen.

Für die Inhaltsbestimmung des Begriffs der Nachmoderne ist nur ein Gesichtspunkt entscheidend, und das ist der des Kontinuitätsbruchs mit der Moderne. Den Begriff Nachmoderne verstehe ich - auch in Anlehnung an seinen unmittelbaren Wortsinn - als Geschichtsphase einer Zeit nach der Moderne. Der Kontinuitätsbruch mit der Moderne kann in der Einsicht charakterisiert werden, dass fundamentale rationale Ansprüche, mit denen die Moderne angetreten war, nicht eingelöst werden konnten und auch niemals eingelöst werden können. Damit waren die Ideale der mathesis universalis der Neuzeit hinfällig.

2.  Städtebauliche Literatur des 20. Jahrhunderts

Eine Auswertung der städtebaulichen Fachliteratur des 20. Jahrhunderts im Sinne einer Ideengeschichte des Städtebaus diente zur Darstellung der Entwicklung von Ideen, Gedanken und Vorstellungen darüber, wie eine Stadt oder ein Teil einer Stadt auszusehen und zu funktionieren habe. Dabei stand der städtebauliche Entwurf im Mittelpunkt. Aussagen über das städtebauliche Entwerfen lassen sich grob den folgenden Themen zuordnen:

 

·          gesamtstädtische Ordnung,

·          Nutzung,

·          verkehrliche Erschließung,

·          Bebauung,

·          Außenraum,

·          Grünflächen und Bepflanzung,

·          Parzellierung,

·          Umgang mit dem Bestand.

 

Inhaltlich übereinstimmende Aussagen verschiedener Autoren und Autorinnen, können dabei zu „Entwurfsregeln“ zusammengefasst werden. Eine Entwurfsregel beschreibt, auf welche Art und Weise die Grundelemente eines städtebaulichen Entwurfs – Bebauung, Erschließung, Parzellierung, Bepflanzung, Außenraum, Nutzung – für sich und in Kombination miteinander angewendet werden sollen. Der Begriff Regel bringt zum Ausdruck, dass die aus der Literatur gewonnenen Aussagen eine normative Dimension in sich tragen. Um einen Kontinuitätsbruch von der Moderne zur Nachmoderne zu identifizieren, wurden zwei Entwurfsregelsysteme konstruiert: ein System von Entwurfsregeln der städtebaulichen Moderne und eines der Nachmoderne. (vgl. Abbildungen 1 und 2)

 

Abb. 1: System von Entwurfsregeln der städtebaulichen Moderne

Abb. 2: System von Entwurfsregeln der städtebaulichen Nachmoderne

3.  Unterschiede zwischen städtebaulicher Moderne und Nachmoderne

In der Gegenüberstellung der einzelnen Entwurfsregeln der Moderne einerseits und der Nachmoderne andererseits werden mehrere Unterschiede zwischen den beiden Entwurfsregelsystemen deutlich:

 

·          Viele Entwurfsregeln der Nachmoderne reagieren antithetisch auf die der Moderne.

·          Manche der Entwurfsregeln der Nachmoderne stellen sich als Rückgriff auf die vormoderne Stadt dar.

·          Manche Entwurfsregeln der Nachmoderne treten erstmals in der Nachmoderne auf und sind kein Rückgriff auf die Stadt vor der Moderne.

·          Viele der Entwurfsregeln der Moderne weisen einen hohen Gehalt an Dogmatismus auf. Die Entwurfsregeln der Nachmoderne gestalten sich eher flexibel und abwägend.

·          Viele der Entwurfsregeln der Moderne sind eher normativ geprägt. Viele der Entwurfsregeln der Nachmoderne basieren eher auf heute gültigen empirischen Beobachtungen.

·          In einigen der Entwurfsregeln der Nachmoderne ist gleichsam noch deutlich der Einfluss des Denkens der Moderne spürbar.

 

Die beiden Entwurfsregelsysteme dienten als Grundlage, städtebauliche Entwürfe aus der Zeit zwischen 1960 und 1975 zu analysieren. Es wurden zunächst 86 Entwürfe zusammengestellt, die mindestens eine nachmoderne Entwurfsregel aufweisen, sich dadurch also dem Kodex ihrer Zeit entzogen.[3] Es sind Entwürfe, in denen für einen tatsächlich existierenden Ort und Planungsauftrag konkrete Vorschläge gemacht wurden, die vom mainstream abwichen. Somit unterschieden sie sich von Vorschlägen in der Literatur, die normalerweise von einem Ort losgelöst und abstrakt sind. Diese 86 Entwürfe wurden aufgeteilt in „Entwürfe für überwiegend unbebaute Flächen“ und „Entwürfe für Bestandsgebiete“, weil sich deren jeweiligen Entwurfsvoraussetzungen grundlegend unterscheiden.

Aus dieser größeren Menge wurden dann unter bestimmten Kriterien[4] 15 Entwürfe zur näheren Analyse ausgewählt und jeweils vertiefend untersucht. Hierbei konnten zum einen weitere nachmoderne Entwurfsregeln identifiziert werden, die auf den ersten Blick nicht erkennbar gewesen waren. Zum anderen konnten Abhängigkeiten der angewendeten Entwurfsregeln unter einander aufgezeigt werden.

4.  Beispiele

An dieser Stelle möchte ich stellvertretend für die 15 näher beschriebenen Entwürfe im Buch sechs städtebauliche Entwürfe mit ihren wichtigsten nachmodernen Komponenten kurz vorstellen. Es handelt sich dabei eher um die „spektakulären“ als um die „stillen“ aus dem Reigen der nonkonformen Entwürfe. Das ist auch der Grund, warum die meisten der Beispiele dieses Beitrags aus Berlin stammen.

4.1  Die „Berliner Korridorstraße“ in der Gropiusstadt

1960 machte Walter Gropius mit dem Büro The Architects Collaborative (TAC) für die Gropiusstadt in Berlin einen ungewöhnlichen Vorschlag: Sehr dichte Bebauung, die den Außenraum in verschiedenen Formen (kreisförmig, linear oder rechteckig) fassen sollte, war in den Entwurf eingestreut (vgl. Abbildung 3). Gropius beabsichtigte, mit diesen Räumen an die „Korridorstraße“, an die „Berliner Luft“ zu erinnern. Gerade noch hatte sich Berlin mit freiplastischen Baukörpern im neugebauten Hansa-Viertel auf einer internationalen Bauausstellung präsentiert, da musste dieser Entwurf mit seinen nachmodernen Elementen „hohe Bebauungsdichte“ und „gefasster Außenraum“ völlig abwegig erscheinen. Die Berliner Baubehörde lehnte diesen sogenannten „1. TAC-Entwurf“ aufgrund der ihrer Meinung nach schlechten Besonnungs- und Grundrissbedingungen ab. Das einzige Element, das von Gropius’ erstem Entwurf verwirklicht wurde, ist einer der „Kreise“, der heute sogenannte „Wohnring“.

Abb. 3: 1. TAC-Entwurf für Gropiusstadt (1960)

4.2 Kleinteilige Nutzungsmischung 1966 in Köln-Chorweiler

In einem Entwurf für Köln-Chorweiler von 1966 war eine sehr weitgehende Nutzungsmischung vorgesehen, eine eindeutig nachmoderne Entwurfsregel (vgl. Abbildung 4). Die Architekten Harald Ludmann und Joachim Riedel mischten Wohnnutzung nicht nur mit Versorgungseinrichtungen, sondern auch mit Büro- und Handwerksnutzung. Sogar in einzelnen Gebäuden sollten mehrere verschiedene Nutzungen – auch Wohnungen und Handwerksbetriebe – untergebracht werden: Ein für die damalige Zeit völlig außergewöhnlicher Vorschlag, der das Vorstellungsvermögen der Wohnungsbaugesellschaft sprengte. Auch dieser Entwurf wurde nicht verwirklicht.

Abb. 4: Entwurf von Ludmann und Riedel für Köln-Chorweiler (1968)

4.3 Hobrechtsche Blöcke in Berlin-Ruhwald

1967 schlugen Josef Paul Kleihues und Heiner Moldenschardt in einem konkurrierenden Gutachterverfahren für das Gebiet am Berliner Ruhwaldpark eine Bebauung vor, deren Prinzipien aus dem typischen Berlin der Hobrechtschen Stadterweiterung abgeleitet waren: Blockrandbebauung, ein rasterförmiges Erschließungsnetz und Autoverkehr in der Geschäftsstraße sind seine Kennzeichen (vgl. Abbildung 5). Der Entwurf wurde als „unsozial“ abgelehnt, weil in der Hälfte der Wohnungen die Wohnräume nach Osten und nicht nach Westen lagen. In diesem Entwurf ging mit der Blockbebauung die gemeinsame Führung des Fuß- und Fahrverkehrs in einem Straßenraum einher. Auch dies war ein außergewöhnliches Merkmal in einer Zeit, in der die Trennung der Wegesysteme in Fußwege einerseits und Fahrwege andererseits noch üblich war. Neben den Blöcken ist die bewusste Zusammenführung von Straßenverkehr und Ladennutzungen ein auffälliges Merkmal des Entwurfs. Während andernorts Ladenstraßen als Fußgängerbereiche entworfen wurden, wollten die Entwurfsverfasser hier an den Charakter der Berliner Geschäftsstraße anknüpfen, in der Wohnungen, Läden, Büros und Straßenverkehr vereint sind.

Abb. 5: Städtebaulicher Entwurf von Kleihues und Moldenschardt für Berlin-Ruhwald (1967)

4.4 Schon 1963 behutsame Stadterneuerung für Berlin-Wedding

Für seine Zeit eine absolute Ausnahme stellen die Entwürfe von Peter Koller im Rahmen eines Gutachtenauftrags für das Sanierungsgebiet Berlin-Wedding im Jahre 1963 dar. (vgl. Abbildung 6) Man kann durchaus sagen, dass Kollers Vorschläge Prinzipien vorgreifen, die erst 20 Jahre später mit der „behutsamen Stadterneuerung“ zur Anwendung kommen. Während als Leitlinien der Sanierung „der große Wurf“, „die große Konzeption“, „die Absage an jedes Klein-Klein“ gefragt waren, wandte sich Koller mit seinen Vorschlägen gegen jeglichen zerstörerischen Kahlschlag. Koller, der keine 20 Jahre zuvor noch im Dienste des menschenverachtenden nationalsozialistischen Regimes die „Stadt des KdF-Wagens“ (Wolfsburg) geplant hatte, argumentierte nun aus sozialer und ökonomischer Sicht für den Erhalt kaiserzeitlicher Bebauung samt seiner typischen Nutzungsmischung und charakteristischen Bevölkerungsstruktur.

Abb. 6: Entwurf von Koller und anderen für den Block 243 in Berlin-Wedding (1963)

4.5 Berlin-Schöneberg 1970: Alle Planungsmacht den Betroffenen!

Erst 1970, eingebettet in das geistige und politische Klima der außerparlamentarischen Opposition, finden sich wieder ähnliche Gedanken in Entwürfen für Stadterneuerungsgebiete. In einem konkurrierenden Gutachterverfahren für das Gebiet um die Steinmetzstraße in Berlin-Schöneberg schlug die „Arbeitsgruppe Sanierung Schöneberg“ den Erhalt und die Modernisierung der Bebauung vor. Als oberstes Ziel formulierte sie den Verbleib der gesamten Bevölkerung im Gebiet. Sie versuchte nachzuweisen, dass eine Modernisierung der bestehenden Bebauung kostengünstiger sei als Abriss und Neubau. Zur Bürgerbeteiligung hatte die Gruppe radikale Vorstellungen: Die gesamte Planungsmacht sollte an die Betroffenen abgegeben werden. In diesem Sinne verstand sie ihren eigenen Entwurf (vgl. Abbildung 7) nur als einen Vorschlag. Das von der Neuen Heimat beauftragte Gutachten endet mit dem Ausruf:

 

„Neue Heimat - neuer Slum

für den, der nicht bezahlen kann.“

 

Es mag ein Grund für die Ablehnung des Entwurfes gewesen sein, dass das Gutachten mit weiteren solch spitzen Aussagen gespickt war. Der wesentliche Inhalt des Vorschlages, nämlich Erhalt und Modernisierung vieler Altbauten statt Flächensanierung, konnte nicht der Grund für die Ablehnung gewesen sein, denn der von den Gutachtern zur Weiterarbeit empfohlene Entwurf einer anderen Gruppe sah ebenfalls den Erhalt der Altbebauung vor.

Abb. 7: Entwurfsvorschlag der Arbeitsgruppe Sanierung Schöneberg für die Planungseinheit P VII in Berlin-Schöneberg (1970)

4.6 Erhalt von „Dirnenunterkünften“ im Dörfle 1972

Das Büro SanPlan geht in seinem Entwurf für das Dörfle in Karlsruhe (1972) noch einen Schritt weiter als die Arbeitsgruppe Sanierung Schöneberg (vgl. Abbildung 8). Es sah nicht nur den Erhalt der Vorderhausbebauung, sondern auch der sehr dichten Hinterhofbebauung vor. Die Gründe für den Erhalt der Bebauung waren ebenfalls wie bei der Arbeitsgruppe Sanierung Schöneberg sozialer Art. SanPlan wollte die typische Bewohnerstruktur des Gebietes bewahren, die nach dem Sanierungsträger Neue Heimat „bestimmt wird von Personen ohne festen Arbeitsplatz, fliegenden Händlern, Prostituierten, Gastarbeitern und Kleinstrentnern“. Auch der Erhalt der morphologischen Struktur, die sich durch ein System von Straßenraster und Baublöcken auszeichnete, war sozial motiviert. Das zeigen die Ausführungen des Büros zur „Blockstruktur als Ordnungsschema innerstädtischer Wohn- und Lebensformen“, in welchen es den kommunikativen und kollektiven Aspekt des privaten, gemeinschaftlichen Hofinnenbereiches der Blöcke und des öffentlichen Straßenraumes betonte. Ein absolutes Novum des Entwurfs für die damalige Zeit war die vorgesehene kleinteilige Parzellierung und Bebauung, die sich erst in den 1990er Jahren als „neues“ Entwurfsprinzip durchzusetzen begannen. Auch dieser Entwurf wurde nicht realisiert, sondern der von Hilmer und Sattler. Ihr Entwurf war im Vergleich zu dem von SanPlan weitaus gemäßigter; er gilt heute als der Durchbruch der erhaltenden Stadterneuerung in der Realgeschichte.

Abb. 8: Städtebaulicher Entwurf (Erdgeschoss) des Büros SanPlan für Karlsruhe-Dörfle (1972)

5.  Die Durchsetzung nachmoderner Entwurfsregeln

Wenn man genau hinschaut, in welchen Bereichen sich die Entwürfe einerseits von zeitkonformen unterscheiden und in welchen Bereichen sie andererseits keine Abweichungen vom Mainstream – der noch vorherrschenden Moderne – aufweisen, kann man den Entwicklungsgang leicht nachvollziehen. Man kann verfolgen, wann und wie sich die Entwurfsregeln im Einzelnen geändert haben und welcher zeitliche Kontext dazu beigetragen haben mochte, eine neue Idee voranzubringen oder sie zu hemmen.

Die Auswertung der städtebaulichen Entwürfe der 1960er und frühen 1970er Jahre zeigt, dass Entwurfsregeln der Moderne zunehmend an Bedeutung verlieren. Statt dessen beginnen sich nachmoderne Entwurfsregeln mehr und mehr durchzusetzen. Bezüglich der meisten Entwurfsregeln sind innerhalb der 15 Jahre des betrachteten Zeitraumes deutliche Veränderungen und eine Wende von der Moderne zur Nachmoderne zu erkennen. Dagegen sind im Beobachtungszeitraum hinsichtlich einiger Entwurfsregeln keine oder nur leichte Veränderungen festzustellen. Hier hat eine Veränderung beziehungsweise eine Wende erst nach der Mitte der 1970er Jahre stattgefunden, oder sie haben bis heute nicht stattgefunden und werden dies vielleicht auch niemals tun.

 

Abbildung 9 zeigt, ab wann sich welche nachmodernen Entwurfsregeln durchzusetzen beginnen. Hinsichtlich der meisten der Entwurfsregeln findet eine Wende von der Moderne zur Nachmoderne innerhalb der 15 Jahre zwischen 1960 und 1975 statt. Deshalb kann dieser Zeitraum als der bedeutendste in der Entwicklung städtebaulicher Entwurfsregeln bezeichnet werden. Die 15 Jahre des Beobachtungszeitraumes lassen sich in drei 5-Jahres-Abschnitte gliedern. Der eine beginnt etwa 1960, der zweite 1965 und der dritte 1970. Für die Folgejahre, also die zwischen 1975 und heute, lassen sich lediglich vage Einschätzungen – ohne empirische Ermittlung – darüber treffen, ab wann sich die verbleibenden nachmodernen Entwurfsregeln durchzusetzen beginnen.

Abb. 9: Durchsetzungsbeginn nachmoderner Entwurfsregeln in städtebaulichen Entwürfen

5.1  Der Zeitraum 1960 - 1965

Drei Aspekte charakterisieren den ersten 5-Jahres-Abschnitt: Die deutlichste Wende, die schon 1960 einsetzt, ist die Ablehnung der Nachbarschaftseinheit als Gliederungselement der Stadt. Zweitens setzt ab 1960 eine allmähliche Veränderung all jener Entwurfsregeln ein, die mit dem behutsamen Umgang mit dem baulichen Bestand in Altbaugebieten zusammenhängen. In den Entwürfen für Bestandsgebiete bleibt in der Regel auch das gemeinsame Wegesystem für den Fuß- und Fahrverkehr erhalten sowie in zunehmendem Maße die Blockbebauung. Mit dem Erhalt der Blockbebauung geht auch eine Anerkennung der kontextuellen Auffassung der Gebäude und eine Anerkennung der räumlichen Fassung des Außenraumes einher. Drittens kann die Zeit zwischen 1960 und 1965 als „Anlaufzeit“ hinsichtlich der Entfaltung folgender nachmoderner Regeln in Entwürfen für überwiegend unbebaute Flächen bezeichnet werden: Nutzungsmischung, räumliche Fassung des Außenraumes, Verwendung des Baublocks, kontextuelle Auffassung der Gebäude. Die Nutzungsmischung und die räumliche Fassung des Außenraumes werden in dieser Zeit nur auf besondere Orte beschränkt angewendet, meistens in den Zentren der neuen Wohngebiete. Bevor es mit dem Entwurf für Hamburg-Steilshoop Mitte der 1960er Jahre zum Durchbruch in der Wiederanwendung der Blockbebauung kommt, wird in den etwa fünf Jahren davor mit Gebäudeanordnungsformen experimentiert, die Ähnlichkeiten mit dem Baublock aufweisen. Die Entwurfsregel der kontextuellen Auffassung der Gebäude braucht ebenfalls eine gewisse Anlaufzeit, bis sie sich Mitte der 1960er Jahre durchzusetzen beginnt. Sie wird in der Zeit zwischen 1960 und 1965 gerne neben der Entwurfsregel der einzelkörperlichen Auffassung der Gebäude angewendet.

5.2 Der Zeitraum 1965 - 1970

Im zweiten 5-Jahres-Abschnitt, dem zwischen etwa 1965 und 1970, ist eine Wende hinsichtlich einiger Entwurfsregeln vor allem in Entwürfen für überwiegend unbebaute Flächen festzustellen. Mitte der 1960er Jahre entstehen hier erstmals Entwürfe, die eine kleinteilige Nutzungsmischung vorschlagen, die über die Versorgung des Gebietes hinausgehende Arbeitsstätten einschließt. Ab Mitte der 1960er Jahre werden in Entwürfen für überwiegend unbebaute Flächen ein gemeinsames Wegesystem für den Fuß- und Fahrverkehr, die räumliche Fassung des Außenraumes und die Verwendung des Baublocks vorgesehen. Wie die beiden letztgenannten Entwurfsregeln wird nunmehr auch die Entwurfsregel der kontextuellen Auffassung der Gebäude nicht mehr zögerlich, sondern auf das gesamte Entwurfsgebiet angewendet. Schließlich setzt sich ab 1965 eine relativ hohe bauliche Dichte durch, sowohl in Entwürfen für überwiegend unbebaute Flächen als auch für Bestandsgebiete.

5.3 Der Zeitraum 1970 - 1975

Der 5-Jahres-Abschnitt zwischen etwa 1970 und 1975 ist durch fünf Aspekte charakterisiert. Ab 1970 findet eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Erhalt beziehungsweise der Wiederbelebung der Nutzungsmischung statt. Ab Anfang der 1970er Jahre wird auch der behutsame Umgang mit der Bevölkerung zum breit diskutierten Thema, während er zuvor in den Entwürfen kaum Erwähnung fand. Drittens kann in diesem Zeitabschnitt eine veränderte Haltung im Hinblick auf den Zweck eines städtebaulichen Entwurfs festgestellt werden. Der Entwurf wird von nun an nicht mehr als verbindliche Vorgabe angesehen, sondern als Regelwerk. Dies trifft aber nur auf Entwürfe für Bestandsgebiete zu. Der vierte Aspekt bezieht sich auf die Verkehrsplanung in den Entwürfen. Ab Anfang der 1970er Jahre wird in Entwürfen für Bestandsgebiete versucht, den motorisierten Verkehr stadtverträglich zu integrieren oder ihn zugunsten des Umweltverbundes einzuschränken. Schließlich wird in einigen Entwürfen schon ab Anfang der 1970er Jahre eine kleinteilige Parzellierung und Bebauung für die Neubaubereiche in Bestandsgebieten vorgeschlagen.

 

Es kann festgehalten werden, dass sich der überwiegende Teil der modernen Entwurfsregeln in den 15 Jahren zwischen 1960 und 1975 in nachmoderne Entwurfsregeln umgewandelt hat. Einige nachmoderne Entwurfsregeln kommen früher, einige später zur Anwendung. Die Hinwendung zu nachmodernen Entwurfsregeln geschieht nicht auf einen Schlag, sondern geht langsam vonstatten. Verschiedene Entwicklungslinien, die sich anhand der einzelnen Entwurfsregeln nachzeichnen lassen, sind zu erkennen. Sie sind vielfach miteinander verflochten. Die Entwicklung ist aber nicht mit dem Ende des Zeitraums abgeschlossen. Einige nachmoderne Entwurfsregeln werden erst in der Folgezeit angewendet oder finden bisher in noch keinem Entwurf beziehungsweise selten Anwendung. Man kann jedoch sagen, dass die städtebaulichen Entwürfe nach 1975 überwiegend von nachmodernen Entwurfsregeln geprägt sind. Insofern ist es gerechtfertigt, die Zeit zwischen 1960 und 1975 als die Übergangszeit von der Moderne zur Nachmoderne hinsichtlich der Entwicklung städtebaulicher Entwürfe zu bezeichnen.

6.  Schlussfolgerungen für das städtebauliche Entwerfen heute

Wie bereits eingangs erwähnt, war mein Interesse auch darauf gerichtet, was aus meiner Untersuchung für das Denken und Handeln im Städtebau heute folgen kann. Der Gewinn liegt vor allem in drei Erkenntnissen:

 

·          Vor dem Hintergrund fundierter städtebaugeschichtlicher Kenntnisse relativieren sich viele „Entwurfsideen“.

·          Aus der Arbeit kann ein differenziertes Bild von den Bedingungen gewonnen werden, denen „Entwurfsregeln“ unterliegen, beziehungsweise von den Chancen, die sie bieten.

·          Man kann lernen, dass der städtebauliche Entwurf in Abhängigkeit von den zeitlichen Rahmenbedingungen unterschiedliche Bedeutungen hatte und sich Ansprüche an ihn immer wieder verändern.

6.1  Relativierung sogenannter „Entwurfsideen“.

Der Blick auf das zurückliegende Jahrhundert und besonders auf die städtebauliche Umbruchzeit der 1960er und 1970er Jahre fördert so manche Ideen zu Tage, die heute wieder als Lösung für ein Problem präsentiert werden. Zum Beispiel tauchen nach wie vor und immer wieder – insbesondere in Erläuterungsberichten bei städtebaulichen Wettbewerben – „Ideen“ auf, wie „nachbarschaftliche Einheiten“, „organische“ Begründungen für alles Erdenkliche oder eine „Urbanität hervorrufende hohe Dichte“, die als Lösung für bestimmte Probleme versprochen werden. Dieses Phänomen dürfte auf eher zufällig „aufgeschnapptem“ Wissen der Entwerfer beruhen, das der fundierten städtebau­(geschicht)­lichen Kenntnis und ausreichender Reflexion zu entbehren scheint. Im Spiegel der Geschichte entpuppt sich das vermeintlich Neue als schon einmal dagewesenes. Weiter sollte erwogen werden, sich von Ideen zu verabschieden, die sich in der Vergangenheit bereits ein- oder mehrmals als Fehlschlag erwiesen haben und auch unter heutigen Rahmenbedingungen keine Erfolgschancen versprechen. Hierzu gehört zum Beispiel das strenge Ordnen von Stadtteilen in isolierte Nachbarschaften.

6.2 Bedingungen und Chancen von „Entwurfsregeln“

Beim städtebaulichen Entwerfen wird vielfach in Kategorien gedacht, die den von mir formulierten „Entwurfsregeln“ nahekommen. Bei der Auseinandersetzung im Prozess des städtebaulichen Entwerfens können präzise formulierte Entwurfsregeln helfen, sich über Lösungswege und Ziele des Entwurfs zu verständigen. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass die aus der Literatur gewonnenen Entwurfsregeln immer wertbedingte qualitative Aussagen sind, in denen Zielsetzungen verschiedenster Art ihren Niederschlag gefunden haben. Wendet man eine Entwurfsregel unbesehen an, kommt dies der Übernahme der darin enthaltenen Vorstellungen gleich. Die Gefahr der Übernahme und Verwendung von Entwurfsregeln besteht darin, dass man vergisst, nach ihrem Sinn zu fragen, und eine Entwurfsregel wie eine konkrete Anweisung gleichsam mechanisch anwendet. Die Verwendung von Entwurfsregeln kann also leicht zu einer unreflektierten Übernahme bestimmter Schemata führen. Jede Anwendung von Entwurfsregeln sollte daher eine gute Kenntnis der theoretischen und methodischen Grundlagen voraussetzen, die zu den Entwurfsregeln geführt haben.

Die Gefahr der schematischen Anwendung einer Entwurfsregel besteht nicht nur in der mangelnden Kenntnis ihres eigentlichen „Sinnes“, sondern auch in der unüberlegten Anwendung an jedem beliebigen Entwurfsort. Man kann aus den Falluntersuchungen meiner Arbeit lernen, dass Entwurfsregeln je nach Lage und Größe des Entwurfsortes unterschiedliche Realisierungsmöglichkeiten aufweisen. So ist zum Beispiel die Umsetzungschance einer weitgehenden Nutzungsmischung, die kleinteilig ist und verschiedene Qualifikationsprofile einschließt, einer kleinteiligen Parzellierung oder aber einer Einschränkung des motorisierten Verkehrs zugunsten des Fuß- und Radverkehrs und des ÖPNVs abhängig vom Entwurfsort. Nicht überall lassen sich diese Entwurfsregeln gleichartig und gleichwertig anwenden. Deshalb sollten die Potenziale eines Ortes in Bezug auf einzelne Entwurfsregeln sorgfältig geprüft und unter den in einem Entwurf gegebenen Bedingungen optimal ausgenutzt werden.

Die Betrachtung der Entwicklungsgeschichte städtebaulicher Entwürfe zwischen 1960 und 1975 hat bloßgelegt, dass Entwicklungen wie zum Beispiel die Anwendung des Baublocks oder der hohen baulichen Dichte stark dem „Zeitgeist“ unterliegen. Gerade der Baublock ist heute wieder aktuell. An seinem Beispiel kann man besonders gut erkennen, dass Entwurfsregeln nicht schematisch angewendet werden dürfen. Betrachtet man die mit dem Baublock verbundenen Eigenschaften und Potenziale genauer und stellt seine Qualitäten der geschichtlichen Entwicklung seiner Anwendung in Entwürfen gegenüber, so kann man lernen, dass bestimmte Potenziale des Blocks im Laufe der Zeit - auch bis heute noch - verlorengingen oder nicht ausgeschöpft wurden. Man kann ebenfalls versuchen zu erkennen, woran dies gelegen hat. Daraus lassen sich für heute vielversprechende Einsatzbereiche des Baublocks herausfiltern, die beispielsweise die Ziele „Nutzungsmischung“ oder „Einbindungsfähigkeit in das Erschließungsnetz der Stadt“ (und damit verbundene Addierbarkeit als morphologisches Ordnungsprinzip) erreichen helfen.

Die Beispiele und die Entwicklung der Entwurfsregeln haben gezeigt, dass einzelne Entwurfsregeln nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Eine Entwurfsregel ist um so „erfolgreicher“, je mehr sie mit anderen verwandten Entwurfsregeln verknüpft wird. Aus der vorliegenden Arbeit lässt sich der Schluss ziehen, dass die isolierte Anwendung einzelner Entwurfsregeln wenig wirksam ist. Erst in der Verflechtung mehrerer Entwurfsregeln untereinander kann eine Entwurfsregel ihre volle Wirksamkeit entfalten. So kann beispielsweise die Entwurfsregel der „Nutzungsmischung“ erst dann umfassend wirksam werden, wenn sie mit möglichst vielen folgender Entwurfsregeln kombiniert wird:

 

·          mit dem vollständigen Erschließungsnetz,

·          mit einer relativ hohen, jedoch gleichzeitig verträglichen Dichte,

·          mit einer möglichst kleinteiligen Parzellierung,

·          mit einer wahrnehmbaren Zueinanderordnung von Bebauung und Erschließung,

·          mit der räumlichen Fassung des Außenraumes sowie der Orientierung der Gebäude zum öffentlichen Raum und der Erschließung der Gebäude vom öffentlichen Raum aus.

 

Sollen bei der Nutzungsmischung weitere Nutzungen jenseits des Wohnens realisiert werden, die auf eine Einbindung und nicht Isolierung des Standortes angewiesen sind, so ist beispielsweise die Entwurfsregel des vollständigen Erschließungsnetzes unabdingbar. Das vollständige Erschließungsnetz teilt den Raum im Gegensatz zum „unvollständigen Erschließungsnetz“ ohne Restflächen vollständig auf, oft rasterartig. Dadurch ist die Erschließungsqualität hoch und Nutzungen wie Läden oder Büros sind gut erreichbar.

6.3 Wandel in Bedeutung und Anspruch des städtebaulichen Entwurfs

Meine Untersuchung macht deutlich, dass der städtebauliche Entwurf in der Zeit zwischen 1960 und 1975 ein wichtiges Instrument zur Einführung und Weiterentwicklung nachmoderner Ideen war. Allerdings deutet sich in diesem Zeitraum auch ein verändertes Verständnis davon an, welche Bedeutung einem städtebaulichen Entwurf beigemessen werden kann. Wurde er zu Beginn der 1960er Jahre noch vor dem Hintergrund und in dem Glauben einer detailgetreuen Realisierungsabsicht erstellt, so änderte sich dies im Laufe der 1960er und 1970er Jahre ganz entscheidend. Mit dem Beginn einer „behutsamen Stadterneuerung“ im Innern der Städte und einer nur geringfügigen und langsamen Entwicklung der Stadtränder erfuhr der städtebauliche Entwurf mehr und mehr die Bedeutung eines rahmengebenden Regelwerkes. Es sollte heutzutage Konsens sein, dass der städtebauliche Entwurf lediglich als Rahmensetzung fungieren soll und nicht dafür bestimmt ist, eine einmalige, unmittelbare Verbindlichkeit für die Entwicklung und Gestaltung eines Ortes festzulegen.

Der Blick auf die Städtebaugeschichte zeigt, dass dem städtebaulichen Entwurf zunehmend weniger Bedeutung im Planungs- und Entwicklungsprozess der Stadt zukommt. Spielte er noch bis in die 1970er Jahre hinein eine relativ große Rolle, so tritt er heute nur noch als eines von vielen weiteren Instrumenten zur Planung der Stadt auf. Gegenüber etwa der Bauleitplanung, der Bodenpolitik, der öffentlichen und privaten Investitionsplanung liegt das Vermögen des städtebaulichen Entwurfs besonders darin, ein Bild der beziehungsreichen Zusammmenhänge zwischen Bebauung, Erschließung, Parzellierung, Bepflanzung und Nutzung differenziert und komplex in der dritten Dimension aufzuzeigen. Somit trägt er zur Verständigung der im Planungsprozess Beteiligten bei.

Im Aufgabenfeld des städtebaulichen Entwerfens treffen sich die Disziplinen der Architektur und der Stadtplanung. Gerne wird zwischen architektonisch geprägtem Anspruch einesteils und stadtplanerischem andernteils polarisiert. Oberflächlicherweise wird dabei der Seite der Stadtplanung unterstellt, sich zu viel auf wirtschaftliche, soziale, ökologische und funktionale Implikationen des Baulich-Räumlichen zu konzentrieren und dabei künstlerisch-ästhetische Implikationen zu vernachlässigen. Gleichfalls wird der Seite der Architektur unterstellt, genau umgekehrte Ziele zu verfolgen: Sie lege ihren Schwerpunkt zu sehr auf das Künstlerisch-Ästhetische und vernachlässige dabei die wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und funktionalen Implikationen. Gewiss, lange Zeit – bis in die 1970er Jahre hinein – war das städtebauliche Entwerfen dominiert von einem eher wie oben beschriebenen „architektonisch“ geprägten Anspruch. Ich denke, dass „Alleinansprüche“ – welcher Seite auch immer – überholt sein sollten. Man sollte inzwischen lieber die Kenntnisse und Talente der jeweiligen Disziplinen anerkennen und zusammenführen. So könnten sich beispielsweise das eher architektonische Vermögen, dreidimensional zu denken und ein geschultes Auge für Maße und Proportionen mitzubringen, und die eher stadtplanerische Fähigkeit, einen Blick für stadtstrukturelle Zusammenhänge zu haben und die Realisierbarkeit eines Entwurfes – etwa bezüglich der Wirtschaftlichkeit und planungsrechtlichen Bedingungen – einschätzen zu können, auf der Nahtstelle des städtebaulichen Entwerfens treffen.



[1] Der Artikel stellt eine Zusammenfassung der von der Autorin in Buchform veröffentlichen Dissertation am Fachbereich 7 der TU Berlin dar (Ursula Flecken: „Zur Genese der Nachmoderne im Städtebau. Entwürfe 1960-1975 in Westdeutschland“, Berlin 1999).

[2] Die Begriffe „Nachmoderne“ und „Postmoderne“ werden hier als Synonyme verstanden. Weil in der Architekturkritik oftmals mit dem Begriff der Postmoderne eine historisierende oder nostalgische Architektur verbunden wird und diese verengende Anwendung des Begriffs in oberflächlicher Manier weit verbreitet ist, wird hier der Begriff Nachmoderne verwendet.

[3]           Dies geschah auf Basis der systematischen Durchsicht der städtebaulichen und architektonischen Fachzeitschriften „Bauwelt“ (Jahrgänge 1958 - 1976), „Stadtbauwelt“ (Jahrgänge 1964 - 1976), „Architektur-Wett­bewerbe“ (Jahrgänge 1958 - 1976) und „Wettbewerbe aktuell“ (1971 - 1976), ferner die Durchsicht der in der Abteilungsbibliothek Städtebau der Technischen Universität Berlin vorhandenen Materialien über städtebauliche Entwürfe der Zeit zwischen 1960 und 1975. Darüber hinaus wurde Hinweisen in der Fachliteratur und Hinweisen von Personen nachgegangen.

[4]           Die Entwürfe sollten nunmehr mindestens zwei nachmoderne Entwurfsregeln aufweisen. Sie sollten über das Bundesgebiet verteilt liegen. Es sollten unterschiedliche Anlässe für die Erstellung der Entwürfe (z.B. Wettbewerb oder Gutachten) bestehen. Sie sollten unterschiedlich erfolgreich sein. Bei Entwürfen für Bestandsgebiete sollten unterschiedliche Siedlungstypen vorliegen. Es musste ausreichendes Material zur Beschreibung und Interpretation zur Verfügung stehen.